Ödland - Thriller
»Zunächst mal: Die Dienstgrade lauten anders ...«
»Ist doch egal«, winkt Moussa ab und nimmt einen Schluck Bier aus seiner Büchse. »Aber warum nicht? Interessierst du dich nicht für eine militärische Karriere? Du könntest ganz schön weit kommen. General Kawongolo ist schließlich auch Premierminister geworden.«
»Vorläufig! Außerdem ...« Abou macht eine weite Geste mit dem Arm, welche die ganze Stadt einschließt, die sie von ihrem Balkon in der zweiten Etage aus überblicken. »Ich kann dieses Elend einfach nicht mehr sehen. Moussa, ich möchte hier weg.«
»Und wohin?«
»Nach Europa. Wie du.«
Ein wenig überrascht beobachtet Moussa seinen Bruder, der die im Schatten liegenden Höfe, Dächer und Terrassen mit angewidertem Blick betrachtet. Über der ganzen Stadt liegt der übliche Smog, eine Mischung aus vom Harmattan aufgewirbeltem Staub und dem Rauch von Hunderten kleiner Feuer, auf dem die Bewohner ihre magere Kost kochen. Die mit Sonnenenergie betriebenen Öfchen und Rechauds, die von den Chinesen massenhaft und billig verkauft werden, konnten die alten Traditionen bisher noch nicht besiegen. Viele Menschen lehnen die fremdländische Technologie ab oder haben nicht die Mittel, sie zu erstehen; sie ziehen es vor, ihr Holz bei Hausierern zu kaufen oder es selbst auf den kahlen Hügeln zu suchen. Die Straßenbeleuchtung, die dem Verlauf der Gässchen folgt, erhellt auch die Umrisse einiger magerer Geier, die sich auf den Pfählen niedergelassen haben, um mit vollem Magen zu schlafen oder selbst in der Dunkelheit auf Beute zu warten.
»Europa ist nicht das Paradies, für das du es hältst. Leute wie uns sieht man dort nicht gern. Ich meine Leute mit farbiger Haut.«
»Aber es ist ein reicher Kontinent. Es gibt Wasser, so viel man will, und alle Menschen können sich satt essen.«
»Da irrst du dich aber gewaltig. Natürlich gibt es reiche, ja sogar sehr reiche Leute, aber das sind nur wenige, und sie leben in Enklaven, in die du nicht hineindarfst. Dann gibt es die große Mehrheit, die sich irgendwie über Wasser hält, meistens Arbeit hat und einigermaßen anständig leben kann - trotz zeitweiliger Strom- oder Wassersperren und trotz der Stürme, der Dürreperioden oder der Überschwemmungen, die in Europa immer noch wahre Katastrophen sind, obwohl man sich inzwischen daran gewöhnt haben müsste. Schließlich gibt es die vielen, die überhaupt nichts haben - weder Arbeit noch Geld noch ein Dach über dem Kopf - und die entweder auf der Straße oder in tristen, manchmal gefährlichen Lagern leben. Sie betteln oder schließen sich zu Diebesbanden zusammen. Arm zu sein ist dort noch viel schlimmer als hier, denn wenn du hier arm bist, sind es alle anderen auch - es besteht keine Versuchung. Wenn du dort arm bist, siehst du den ganzen strahlenden Reichtum, luxuriöse Boutiquen, blitzende Autos, die mit Wasserstoff fahren, Geschäfte, wo es Essen im Überfluss gibt und die von bewaffneten Wachmannschaften gehütet werden. Du siehst das alles und wirst nicht nur neidisch, sondern du fängst an zu hassen. Und wenn du dann obendrein noch schwarz bist, wie wir, oder du bist Ausländer und willst dort studieren, dann glauben die Leute, dass du ihnen Arbeitsplätze wegnimmst, die es gar nicht gibt, und dich auf ihre Kosten bereichern willst. Sie laden ihren ganzen Hass auf dich ab, weil sie die Zuständigen nicht erreichen können - denn die leben ja in den Enklaven. So sieht es in Europa aus.«
»Na ja ...« Abou löscht seine Zweifel mit einem Schluck Bier. »Aber wenn du mit einer weißen Frau zusammenlebst, wenn du mit ihr verheiratet bist, kann man dir nichts tun, oder? Du wirst doch dann sicher europäischer Staatsbürger, oder?«
»So einfach ist das nicht. Es gibt eine Menge administrative Hürden zu nehmen, und auch dann kannst du nicht sicher sein, dass alles klappt. Da nützt es dir nichts, dass du der Sohn der Präsidentin von Burkina Faso bist. Seit ich Europa verlassen habe, ist es noch viel schlimmer geworden. Weißt du, in Berlin hatte ich eine Freundin ...« Moussa unterbricht sich und mustert seinen Bruder, dessen Blick sich in der Nacht verliert. »Wieso fragst du eigentlich danach? Hast du etwas vor? Oder gibt es vielleicht schon eine Kandidatin?«
Aus den E-Mails seiner Mutter weiß Moussa, dass Abou anfänglich ziemlich eifersüchtig war, weil sein großer Bruder nach Europa reisen durfte. Am liebsten wäre er ihm gleich ins Schlaraffenland gefolgt. Allerdings war er noch ein
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