Ödland - Thriller
nicht mehr richtig durchgegriffen werden kann.«
»Sie sind also dafür, die Transitlager aufzulösen?«
»Mittelfristig ja. Natürlich müssen zunächst die Programme zur Erstellung sozialverträglicher Unterkünfte vorrangig durchgeführt werden. Solche Wohnungen gibt es nämlich bisher auf dem gesamten Gebiet der Europäischen Union viel zu wenig.«
»Wer aber soll diese Programme finanzieren?«
»Unter anderem denke ich dabei an China, das auf diesem
Gebiet auf eine lange Erfahrung zurückblicken kann.«
Eduardo Pascual, Präsident des Europäischen Rates,
in einem Interview mit Sabine Conelly,
Euronews
Das Transitlager BJ 273.de wurde in aller Eile in einem Rundbau über den Richtungsgleisen eines ehemaligen Rangierbahnhofs der Deutschen Bahn eingerichtet, einem »Drehscheibe« genannten Gebäude. Es ist halbrund, ganz aus rotem Ziegelstein erbaut und rottet im entlegensten Teil des Bahnhofs Buchholz vor sich hin. Hätte man sich die Mühe gemacht, es zu renovieren, hätte es mit seinen klaren, nüchternen Linien, den hohen Rundbogenfenstern und den Ziegelkaminen sicher nicht schlecht ausgesehen. Doch die Fenster sind teils zugemauert, teils mit Plastikplanen verhängt, die Kamine eingestürzt, Ackerwinden und Moderkraut überwuchern die Wände, und Brombeergestrüpp bildet eine natürliche Barriere um das Gelände. Die angrenzenden Gebäude sind in einem ähnlich desolaten Zustand, bis auf den Schuppen, in dem man die medizinische Versorgung und die Verwaltung untergebracht hat; er wurde gereinigt und repariert.
Das Land Niedersachsen wählte den Standort wegen seiner Nähe zur Stadt Hamburg, dessen Hafen von allen Schiffbrüchigen genutzt wurde. Auch der Bahnknotenpunkt Buchholz gewann durch die Flüchtlinge wieder eine gewisse Bedeutung. Dennoch war bei der Auswahl ein gewisses Zögern unverkennbar. Allerdings war die Drehscheibe ohnehin bereits von sogenannten »wilden« Flüchtlingen okkupiert worden, die man in einer Stadt, die trotz allem versuchte, sich einen Anschein von Reichtum und Schick zu geben, nicht gerne sah. Daher genügte es, die Belegung offiziell anzuerkennen, ein Minimum an Material heranzuschaffen, einen hohen, mit Kameras bestückten Zaun zu errichten und die Stadt mit einer Ausgangssperre ab 22 Uhr zu belegen; die Stadtverordneten diskutieren allerdings inzwischen, ob man die Sperre nicht auf 20 Uhr vorverlegen soll. Zwar protestierten die Einheimischen, demonstrierten und riefen Volksbegehren gegen die Pläne zur Errichtung des Lagers ins Leben, doch alles war umsonst. Der Oberbürgermeister verfügte, dass es eine wichtige Bürgerpflicht sei, den Ökoflüchtlingen zu helfen und jeder Buchholzer stolz sein müsse, verantwortungsvoll zu einer humanitären Aktion beitragen zu dürfen. Im Übrigen würde man in Buchholz von dem Lager natürlich auch profitieren. Tatsächlich sind die Steuereinnahmen der Stadt seit der Errichtung des Lagers um zehn Prozent gestiegen. Dass allerdings die Sicherheit im Stadtgebiet gleichzeitig um fast 68 Prozent sank, wird geflissentlich verschwiegen.
Schwerfällig hinkend passiert Rudy das Tor zum Lager. Sein rechter Fuß hat ebenfalls etwas abbekommen - möglicherweise ist er gebrochen. Unter den gleichmütigen Augen der Überwachungskameras hält er sich stöhnend den Bauch. Er schleppt sich an den beiden keuchenden, auf den rissigen Bahnsteigen installierten Wasserstoffgeneratoren vorbei, die einen starken Ozongeruch verbreiten, und wendet sich in Richtung der Ärztebaracke. Doch genau wie im Verwaltungsgebäude ist alles verschlossen, verrammelt und dunkel. Natürlich hat Rudy das gewusst, denn das Lager ist von acht Uhr abends bis acht Uhr morgens auf sich selbst gestellt. Trotzdem hat er insgeheim gehofft ...
Rudy war auf dem Rückweg vom Stadtzentrum, wo er lange nach einem Internetcafé oder einer anderen, funktionstüchtigen Zugangsmöglichkeit ins Web gesucht hat. Doch offensichtlich surfen die Deutschen lieber in ihren eigenen vier Wänden. Man bot ihm eine Modemverbindung zum Preis eines Hochgeschwindigkeitszugangs via Satellit an, die er dankend ablehnte. Eigentlich wollte er endlich alle notwendigen Anträge herunterladen und ausfüllen, um seine Akte zu vervollständigen und so vielleicht irgendwann eine neue Wohnung und seine Entschädigung als Ökoflüchtling zu bekommen. Die zehn armseligen Internetzugänge des Lagers, die natürlich ebenfalls von acht Uhr abends bis acht Uhr morgens nicht zugänglich sind, werden den ganzen Tag
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