Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ödland - Thriller

Ödland - Thriller

Titel: Ödland - Thriller Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bastei Lübbe
Vom Netzwerk:
belagert, laufen oft heiß und stürzen ständig ab; außerdem hat Rudy nicht die geringste Lust, seine Nächte vor den Türen des Internetraums zu verbringen, wie manche Leute es durchaus tun.
    Er beschließt, sich hinzulegen und abzuwarten, ob seine Schmerzen vielleicht nachlassen - das heißt, falls seine Matratze noch da ist. Im Lager herrscht nämlich das Gesetz des Stärkeren, wenn es darum geht, einen Schlafplatz zu erobern oder zu behalten. Statt der ursprünglich vorgesehenen 5000 Flüchtlinge beherbergt die Drehscheibe inzwischen an die 10000 Menschen, und täglich kommen weitere hinzu. Von Zeit zu Zeit verteilt No Home International Matratzen und andere Dinge des täglichen Bedarfs, doch sie reichen nie aus, und jeder reißt sich unter den Nagel, was er bekommen kann. Die besten Plätze, die sich in den ehemaligen Büros im obersten Stock der Drehscheibe befinden, sind laut Lagersatzung alten Menschen, Familien mit Kindern und schwangeren Frauen vorbehalten, doch tatsächlich werden sie von den Flüchtlingen belegt und mit allen Mitteln verteidigt, die als Erste da waren oder die wenigsten Skrupel haben. Familien mit Kindern und Frauen, ob schwanger oder nicht, bleiben nicht in den Übergangslagern. Sie finden so gut wie immer eine andere Lösung; ganz gleich, wie und wo - jede Unterkunft ist dem Lagerleben vorzuziehen. Die alten Leute, die weder von Verwandten aufgenommen werden noch ausreichend Geld haben, um sich ein Krankenhaus leisten zu können, überleben die hier herrschenden Umstände in aller Regel nicht sehr lang. Daher sind die Lager in der Mehrzahl mit alleinstehenden, auf der Strecke gebliebenen Männern belegt, die meist schon vorher arm waren oder alles verloren haben - eine hochexplosive Konstellation. Was an Schlafplätzen bleibt, liegt im Erdgeschoss oder auf den Bahnsteigen, in den ehemaligen Lagerräumen oder im Zwischengeschoss, das im Schnellverfahren eingezogen wurde und natürlich längst ebenfalls heillos überfüllt ist; inzwischen wettet man bereits darauf, wie lange es dauert, bis es einstürzt.
    Rudy hat sich im Zwischengeschoss eingerichtet, weil er der Meinung ist, dass er, wenn er sich beim Einsturz weiter oben befindet, zumindest eine kleine Überlebenschance hat. Schwierig dabei ist nur, dass viele andere die gleiche Idee hatten, sich mit Brachialgewalt Zugang verschafft haben und damit das Gewicht noch erhöhen. Mit der Zeit ist Rudy immer weiter in Richtung Rand abgedrängt worden, der mit einem Gitter aus Aluminiumstangen geschützt ist, das ohne Weiteres eine Kuh durchgelassen hätte. Rudy muss sich abends am Geländer festbinden, um nicht im Schlaf auf den vier Meter tiefer gelegenen Teppich aus menschlichen Körpern zu stürzen.
    Langsam durchquert er die »Cour des Miracles«. So hat er das matschige, wilde Gelände getauft, das die Verwaltungsgebäude von der eigentlichen Drehscheibe trennt und wo tagsüber gehandelt, verschoben, gestritten und geprügelt wird. Er geht an Ständen mit Klamotten, Fast Food, Bier sowie den unterschiedlichsten, vermutlich gestohlenen Gütern vorbei - seine Bomberjacke ist inzwischen vielleicht auch schon dabei. An einem Kohlebecken wärmt sich eine Bande besoffener Typen auf und grölt Nazilieder. Ein Stückchen weiter blitzen Messerklingen im Feuerschein: Hier findet offenbar ein Duell statt. Er sieht einen Dealer, der zwei ausgezehrten, bleichen Jugendlichen irgendwelche Pillen verkauft. Eine abgetakelte Prostituierte starrt abgestumpft in die Finsternis, als hätte sie die Nacht auch in ihren Augen und ihrem Kopf. Eine bewaffnete Clique macht sich bereit für ihre nächtliche Spritztour. Rudy geht allen aus dem Weg. Er will keinen Ärger; für heute hat er weiß Gott genug davon gehabt. Genau genommen hatte er bisher jeden Tag genug davon.
    Gleich nach seiner Ankunft wurde ihm der Rucksack geklaut. Viel war nicht darin: sein Telefon, ein paar persönliche Dinge und Fotos von Aneke und Kristin. Am nächsten Tag ging Moses verloren. Eigentlich musste es zwangsläufig so kommen. Das Kätzchen war schon nach der langen Bahnfahrt im vollgestopften Waggon ängstlich und nervös; der Lärm und die vielen Menschen in der Drehscheibe gaben ihm dann den Rest. Moses rastete geradezu aus vor Angst. Zwar hatte Rudy ihm aus einem Stück Kordel eine Leine gemacht, doch Moses knabberte sie durch und rannte davon. Einen Tag später verschwanden Rudys Matratze und Decke; nur mit viel Mühe gelang es ihm, bei No Home wenigstens eine fleckige,

Weitere Kostenlose Bücher