Ödland - Thriller
Heftiger Wind, Blitzeinschläge und vor allem zwei Tornados der Stärke F3 und F4 auf der Fujita-Skala verwüsten einige Stadtviertel, zerstören Brücken, knicken Antennen um, decken Dutzende von Dächern ab und werfen Autos um. Drei Personen finden den Tod, sechzig werden zum Teil schwer verletzt. Außerdem fallen im gesamten Gebiet sämtliche Hochspannungsleitungen den Windhosen zum Opfer.
Und so steht Eudora, das seine Elektrizität in der Hauptsache aus Lawrence bezieht, plötzlich ohne Strom da. Zwar besitzt die Enklave eigene Wasserstoffgeneratoren, die jedoch aus unerfindlichen Gründen - möglicherweise wegen mangelnder Wartung - nicht anspringen. Während sich Techniker fieberhaft an den Maschinen zu schaffen machen, versinkt die kleine Luxusgemeinde in Finsternis und Angst.
Jedermann kann von seiner Terrasse aus oder verbarrikadiert hinter thermostatischen Glastüren und viktorianischen Bogenfenstern dem Ansturm der schwarzen Wolkenfront auf den farblosen Himmel zusehen, kann Zeuge werden, wie der Tag sich zu einer Chaosnacht verfinstert, kann dem flammenden Ballett der Blitze über den Hügeln beiwohnen. Jeder kann hören, wie der Himmel unter immer stärker werdendem Donnergrollen zerreißt, kann spüren, wie der Wind von Sekunde zu Sekunde heftiger wird, bis er Bäume zersplittert und Dächer abdeckt. Und inmitten der entsetzlichen Finsternis kann jeder das Entstehen der Windhosen beobachten, die sich wie Teufelszungen zuckend nach unten tasten, sich wie Schlangen winden und brüllend und tobend alles in ihren Wirbel reißen. Jeder kann aus der Dunkelheit heraus zitternd zuschauen, wie nur wenige Kilometer weiter westlich über Lawrence die Hölle losbricht.
In ihrer zwölfhundert Quadratmeter Grundfläche umfassenden Villa am Westrand von Eudora, die in einem mit Weiher und Schwimmbecken ausgestatteten Park am Ufer des Wakarusa liegt, findet Pamela keine Ruhe. Wie gebannt steht sie hinter den Glastüren des großen Wohnzimmers und schwankt zwischen Faszination und Entsetzen. Jedes Mal, wenn ein Sturm mit einer solchen Heftigkeit losbricht oder ein Tornado Trümmer und Verzweiflung sät, sieht sie darin das Werk Satans, der sich ein himmlisches Duell mit dem Schöpfer liefert. Für Pamela sind die zuckenden Blitze und der prasselnde Hagel sichtbare Zeichen dieses Kampfes. Als sie ein kleines Mädchen war, erklärte ihre Mutter ihr, Tornados wären auf die Erde hängende Teufelsschwänze, die einen nicht nur töten, sondern auch in die ewige Verdammnis befördern könnten.
Pamela ist sich bewusst, dass sie nicht nur die Rollläden herunterlassen sollte, sondern dass es auch besser wäre, sich mit Junior im Untergeschoss in Sicherheit zu bringen. Im Fernsehen und Internet, per Telefon und von den Drohnen auf die Fensterscheiben projiziert, ist die höchste Unwetterwarnstufe angekündigt worden. Das hauseigene Kommunikationssystem blinkt sogar jetzt noch. Doch Pamela kann sich nicht vom Fleck rühren. Wie hypnotisiert starrt sie auf die Blitze, die in einem frenetischen Stakkato die Wolken zerreißen. Betäubende Donnerschläge lassen die Hauswände erzittern. Pamela hat etwas zu viel Prozac4 eingenommen, was auf der einen Seite ihre Angst ein wenig mildert, andererseits aber ihre Entschlussfähigkeit lähmt und die tobende Naturgewalt draußen wie auf den zweidimensionalen Rahmen des Glasfensters beschränkt wirken lässt.
Junior, der in seinem Rollstuhl neben ihr sitzt, scheint das Gewitter ebenfalls zu faszinieren. Jedes Mal, wenn ein Blitz das Wohnzimmer in grell gleißendes Licht taucht, stößt er einen kleinen, fröhlichen Schrei aus. Seine grauen Augen folgen der Spur der von Blitzen durchzuckten Tornados in der Ferne. Bei einem etwas lauteren Schrei fährt Pamela zusammen. Sie beugt sich über Tony und zwingt sich zu einem tröstlichen Lächeln.
»Alles in Ordnung, mein Liebling? Hast du Angst? Ich glaube, wir gehen jetzt besser nach unten. Da sind wir sicherer, weißt du?«
Sie legt die Hände auf die Griffe des Rollstuhls - und erstarrt zur Unbeweglichkeit. In ihrem Kopf hat sie klar ein deutliches »Nein« vernommen.
Ihre Hände werden kalt, und ihr Herz setzt einen Schlag aus. Sie hat doch eine Stimme gehört, oder? Aber sie steht ganz allein in der Dunkelheit, bis auf Tony, und der ist stumm ...
»Consuela? Sind Sie da?«, gelingt es ihr, mit erstickter Stimme zu rufen.
Doch nur ein dröhnender Donnerschlag antwortet ihr.
»Junior? Hast du etwa gesprochen?«
Die Blitze verleihen
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