Öffne deine Seele (German Edition)
er wusste schon jetzt, dass sie ihnen nicht weiterhelfen würden.
Kein Hinweis auf die Kinder, nirgends.
Ausgenommen möglicherweise in einem unbekannten Handy, das noch immer nicht aus der Süderelbe hatte geborgen werden können. Genau wie der Rest von Holger Retzlaff.
Spuren ins Nichts. Albrecht war klar, dass die Ermittlung in einer Sackgasse steckte, und er fragte sich, um die wievielte Sackgasse es sich eigentlich handelte, seitdem dieser Fall begonnen hatte.
Sokrates, dachte er.
Sein Leib-und-Magen-Philosoph hatte ihm bei mehr als einer Ermittlung geholfen, einfach, indem sich Albrecht auf dessen bedeutendste Maxime besann: Stelle die richtigen Fragen, und du erhältst deine Antworten.
Doch er war sich sicher, dass er die richtigen Fragen stellte!
Die ursprüngliche Frage, die Frage nach dem Verantwortlichen für Falk Sieverstedts Tod, hatte der Konsul mit seinem Selbstmord beantwortet.
Doch diese Frage hatte einer anderen, einer drängenden Frage Platz gemacht: Wo waren die Kinder?
Albrechts Gedanken drehten sich im Kreis.
Das war es, was diese Ermittlung auszeichnete: Dinge verschwanden.
Fahrzeuge. Kompromittierende Fotos. Kinder.
Und Jörg Albrechts engste Mitarbeiterin.
Als Faber ihn bei seiner Rückkehr von der Köhlbrandbrücke mit der Nachricht konfrontiert hatte, hatte Albrecht sekundenlang geglaubt, der Oberkommissar wolle sich einen – denkbar unpassenden – Scherz erlauben. Eine wirre Geschichte mit einer kranken Oma, die selbst schon einer Beleidigung gleichkam.
Doch es war kein Scherz. Hannah Friedrichs war an diesem Tag nicht zum Dienst erschienen.
Untypisch für Friedrichs? Unsinn. Es war unvorstellbar.
Sekundenlang hatte der Hauptkommissar einen Gedanken gehabt …
Aber auch das war Unsinn.
Hannah Friedrichs war die einzige seiner Mitarbeiter, die nicht mehr mit dem Sieverstedt-Fall befasst war. Davon abgesehen wurde sie schließlich nicht vermisst. Sie war bei der Oma im Krankenhaus – theoretisch zumindest. Praktisch versuchte sie vermutlich gerade zu verdauen, was Albrecht ihr an den Kopf geworfen hatte.
Wenn er nach einer Erklärung suchte, musste er nur in den Spiegel blicken.
Dass er mit der Sieverstedt-Spur ins Wespennest gestochen hatte, machte keinen Unterschied. Der Weg, dachte er. Der Weg war falsch.
Er hatte mit zweierlei Maß gemessen, und er würde für diesen Fehler geradestehen, sobald er …
Sobald er, ja, die Ermittlung, die Kinder …
«Hauptkommissar?» Das kam nachdrücklicher.
Er blickte auf.
Irmtraud Wegner stand vor ihm, auf dem Weg in den Feierabend, die Handtasche bereits über der Schulter.
«Ja?»
Sie musterte ihn von oben bis unten.
«Sie waren ein halbes Jahr im Zwangsurlaub, Hauptkommissar. Niemand erwartet von Ihnen, dass Sie diese sechs Monate jetzt auf der Stelle nachholen, um diesen Fall zu lösen.»
Bei jedem anderen seiner Mitarbeiter wäre er über die Bemerkung hinweggegangen.
Nicht so bei Irmtraud Wegner.
Bei allen anderen Mitarbeitern wusste er, dass es für sie ein Leben außerhalb der Ermittlungsarbeit gab: Familien, Kinder, enge Freunde, mit denen sie am Wochenende die Zeit totschlagen konnten.
Nicht für uns beide, dachte er. Nicht für Wegner und mich.
Seine eigene Familie feierte einmal alle ein, zwei Monate eine zombiehafte Auferstehung, wenn die Mädchen bei ihm waren.
Und die Sekretärin …
Für eine kurze Weile hatte es einen Mann in Irmtraud Wegners Leben gegeben, es war noch gar nicht so lange her. Doch Horst Wolfram war tot, in einem Schweizer Sanatorium einem Herzversagen erlegen.
Wenn es tatsächlich ein Herzversagen war, dachte Albrecht.
Doch darüber durfte er jetzt nicht nachdenken.
Er griff in seine Hemdtasche und holte den inzwischen arg zerknitterten Umschlag mit den Fotos hervor.
Selbstverständlich waren längst digitale Kopien angefertigt worden, die die Kriminaltechnik nach allen Regeln der Kunst analysiert und interpretiert hatte, ohne dabei allerdings wesentlich mehr herauszubekommen, als Jörg Albrecht auf den ersten Blick hatte sagen können.
Das Schiff war zu sehen, der Container mit den Mädchen, der Lkw aus dem Fuhrpark von Sieverstedt Import/Export. Außerdem natürlich Holger Retzlaff und der Kapitän des Containerschiffs, der MS Elisabeth, die sich gegenwärtig wieder auf hoher See befand, auf dem Weg nach Südostasien, sodass dort momentan kein Zugriff möglich war.
Doch alles andere …
«Der Fall ist gelöst, Irmtraud. Eine vollständige logische Kette von
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