Öffne deine Seele (German Edition)
nieder.
Merz ging weiter, schob sich an der Schranke vorbei und hörte, wie Dennis ihm schimpfend folgte.
Der Harvester war noch zweihundert Schritt entfernt, als der Motor der Maschine abgestellt wurde, eine Gestalt aus dem Führerhaus ins Freie kroch und eine gedeckte Wetterjacke über das weiße Hemd zog.
«Hallo?», rief der Fahrer ihnen entgegen. «Das hier ist Privatgelände. Sie können hier nicht …»
«Sören?» Merz hatte die Stimme erkannt.
Die Haltung des jungen Mannes veränderte sich. Mit raschen Schritten kam er auf sie zu, so gut das auf dem mit Windbruch übersäten Boden möglich war.
«Herr Dr. Merz?» Ungläubig sah der Junge den Anwalt an. Oder genauer gesagt das Wunderwerk einer Kompresse rund um die Nasenregion. «Sie sehen ja aus! Sind Sie in den Sturm gekommen?»
Irgendwie schon, dachte Merz, ging auf die Bemerkung aber nicht weiter ein.
Sören hatte bereits diesen vollständig arglosen, gleichzeitig aber auch besonders aufmerksamen Blick, der sich bei den Schülern auf Marius’ Hof nach einiger Zeit wie von selbst zu entwickeln schien.
Bei den ersten Besuchen auf dem Anwesen war der Anwalt ernsthaft überzeugt gewesen, dass all diese jungen Leute von Natur aus strahlend blaue Augen hatten.
Dabei waren sie in den wenigsten Fällen wirklich blau. Dieser besondere Ausdruck war ganz einfach – Marius.
«Wollen Sie zum Meister?», fragte Sören, wobei er einen Blick an Merz vorbei auf den Jaguar warf. Dennis grüßte er mit einem Nicken, doch im nächsten Moment nahm sein Gesicht einen bekümmerten Ausdruck an. «Ich fürchte, das wird im Moment nicht möglich sein. Das Unwetter heute Nacht, die Blitze … Er hat sich in seine Räume zurückgezogen. Der Meister würde nie darüber klagen, doch kann sich irgendjemand von uns eine Vorstellung machen, wie sich das für ihn anfühlen muss, der so viel mehr sieht als wir alle? Außerdem wäre das sowieso schwierig jetzt.»
Ein Nicken auf das Bild der Verwüstung. «Wir sind gerade dabei, das Schlimmste zu beseitigen. Aber bis Sie hier wieder mit dem Wagen durchkommen …»
«Und die Hauptzufahrt?»
Ein Kopfschütteln. «Noch schlimmer. Wir sind ja schon froh, dass das Stromnetz noch in Ordnung war heute Nacht. Das hat’s erst heute Morgen erwischt. Folkmar ist schon dabei, das wieder zu reparieren. Sie können sich das nicht vorstellen, Dr. Merz: So viele Anrufe wie gestern hatten wir seit Monaten nicht. Dieses Unwetter … Ich kann verstehen, wenn die Leute es mit der Angst kriegen. Wir, oben im Haus, wussten ja, dass Marius bei uns ist, aber all die Freunde da draußen …»
Merz nickte verstehend.
Marius, dein Freund und Helfer, dachte er. Selbst gegen die Naturgewalt.
Für ihn war der Moderator ein Mandant fast wie jeder andere.
Der Unterschied bestand darin, dass er Marius gegenüber einen gewissen Respekt empfand, den er beim Rest seiner Kundschaft in der Regel nicht hatte.
Mit seiner Macht über die Menschen und seinen Fähigkeiten, ein Gespräch ganz nach seinen Wünschen zu steuern, war Marius eben tatsächlich ein Meister, von dem man eine Menge lernen konnte.
Für den Gerichtssaal genauso wie für das Leben.
«Dann war die Straße gestern Abend schon dicht?», wollte Merz wissen.
Sören nickte. «Ja, schon während der Sendung. Waren Sie nicht selbst gestern noch hier? Sie haben’s gerade noch geschafft, oder?»
Merz nickte und sah zurück über die Schulter.
Die Stelle vor der Schranke, an der er am Abend auf Hannah getroffen war, war ein Chaos aus graubraunem Schlamm und niedergestürzten Ästen.
«Ich hatte gerade noch Glück», bemerkte er. «Aber da war ich wohl der Letzte.»
Der junge Mann neigte den Kopf. «Dr. Warnecke hat in einem der Gästezimmer geschlafen, und Folkmar kennen Sie ja: Der war nicht unglücklich, dass er sich zwischen seinen Mischpulten hinlegen konnte.»
Merz nickte und schwieg.
Doch es kam nichts mehr.
«Und sonst?», hakte er nach.
Fragende, klare blaue Augen. «Sonst? Wer sollte sonst …»
«Meine Frau zum Beispiel.»
Das war das Erste, was Dennis sagte, und im selben Moment bereute Merz, dass er den Mann nicht eingeweiht hatte.
Oder vorsichtshalber geknebelt.
Oder ihn gar nicht erst mitgenommen !
Doch schließlich war er Joachim Merz, der jeden Tag damit klarkommen musste, dass irgendeiner seiner Mandanten mal wieder etwas unbeschreiblich Dämliches von sich gegeben hatte. Er hatte sich alle Optionen offen halten wollen, doch das war jetzt nicht mehr
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