Öffne deine Seele (German Edition)
gerechnet habe. Nicht in einem kleinen Krankenzimmer, auf einer Intensivstation.
Es ist der Hall eines großen, leeren Raumes.
Ich versuche mich aufzurichten, doch wieder komme ich nur wenige Zentimeter weit.
Ich bin festgeschnallt!
Ich presse die Lider zusammen, reiße sie wieder auf.
Keine Veränderung. Ein Schimmer von Licht von unten, auf dem rechten Auge etwas stärker als auf dem linken wie unter einer …
Unter einer Augenbinde.
Erst jetzt bemerke ich das Spannungsgefühl um meinen Kopf, das von dem Stoffstreifen stammen muss, der eng um meine Schläfen gewunden ist.
Und im selben Moment kommt die Angst.
Sie tröpfelt nicht herein, sondern kommt wie eine nachtschwarze Woge. Alles löscht sie aus, was an Licht noch da ist. Sie bricht über mich herein, lähmt mich, nimmt mir die wenigen Zentimeter an Bewegung, zu denen ich in der Lage bin. Selbst meinen Atem nimmt sie mir.
Ersticken. Mit einem Mal bin ich mir sicher, dass ich jetzt, im nächsten Moment, ersticken werde. Dass ich nie wieder …
Ich ringe um Luft, hektisch, panisch, doch es kommt zu wenig, meine Kehle ist zu eng. Ich bin …
Stopp!
Immer wieder werden wir mit solchen Szenen konfrontiert: Tatzeugen, die unfähig sind, sich auf der Stelle mit dem Geschehenen auseinanderzusetzen. Angehörige, die auf eine Todesnachricht mit Schock reagieren.
In dem Moment, in dem man befürchtet, keine Luft mehr zu kriegen, atmet man zu viel, zu schnell, zu hektisch. Das Hirn kann nicht umgehen mit diesem Überangebot an Sauerstoff. Schwindel ist die Folge, Übelkeit, Todesangst – und irrsinnigerweise auch wieder die Angst, ersticken zu müssen.
Ein Teufelskreis.
Es gibt ein simples Hausmittel: In eine Plastiktüte atmen und die verbrauchte, kohlendioxidgesättigte Luft zurückatmen, und der Zustand bessert sich meist innerhalb von Sekunden.
Leider habe ich gerade keine Tüte zur Hand.
Und selbst wenn: In der Hand hätte sie mir nichts genützt.
Reiß dich zusammen, Friedrichs! Du machst es nicht besser, wenn er sieht, wie …
Er sieht.
Schlagartig kommt der Vorgang zum Stehen.
Bin ich allein?
Ich lausche, doch ich höre nur das Rauschen des Blutes in meinen Ohren.
Werde ich beobachtet?
Wo zur Hölle bin ich?
Ich beginne mich auf meinen Körper zu konzentrieren: von den Füßen über die Beine aufwärts, über die Hüften, Arme und Oberkörper, Hals, Kopf.
Keine ernsthaften Schmerzen. Keine Verletzung. Nichts, das erklären könnte, warum ich in einem Krankenhaus gelandet sein sollte.
Du bist nicht im Krankenhaus!
Wieder presse ich die Lider aufeinander, mit dem Unterschied, dass ich jetzt weiß, dass ich nicht mehr, nicht besser sehen werde, wenn ich sie wieder öffne.
Ich versuche mich zu erinnern.
Was ist meine letzte Erinnerung?
Die Treppe vor dem Reviergebäude. Winterfeldt und die anderen, die an mir vorbeistürmen, Hinnerk Hansen, der mir erzählt, dass Albrecht vor dem entscheidenden Durchbruch in der Ermittlung steht.
Eine konzertierte Aktion – gegen die Sieverstedts.
Eine vollständig falsche Fährte.
Albrecht hat sich verrannt. Was auch immer zwischen ihm und der Sippe auf dem Falkenstein gelaufen ist – er kann nicht sehen, wohin die Spur tatsächlich führt.
Das weiß nur ich.
Jasmin, das Mädchen auf dem Reiterhof in Duvenstedt. Ihre Augen, der Sitz der Schlinge.
Albrecht ist blind.
Blind, wie ich es jetzt bin, in diesem Moment.
Ist das meine letzte Erinnerung?
Ich weiß, dass danach noch etwas ist. Da sind Erinnerungen in meinem Kopf. Doch sie ergeben kein zusammenhängendes Bild.
Bleiernes Zwielicht. Wind, der in den Bäumen erwacht. Wind auf meiner Haut. Ich stehe im Freien.
Und ein Gesicht.
Joachim Merz.
Ein einzelner Satz: Wir sehen uns.
Ein Satz wie ein Versprechen. Meine Kehle schnürt sich zusammen bei der Erinnerung.
Doch ich weiß nicht, wie all das ins Bild passt. Das Bild der Vergangenheit ist undeutlich und verschwommen, und die Gegenwart …
Die Gegenwart ist blind.
Das Gefühl in meiner Kehle ist mehr als Durst.
Tränen sickern unter der Augenbinde hervor über meine Wangen, als ich lautlos zu weinen beginne.
neun
H auptkommissar?»
Albrecht rührte sich nicht.
Vor vielleicht zwanzig Minuten war er auf einen der Stühle gesunken und hatte seitdem reglos auf das Chaos von Dokumenten gestarrt, die sich auf dem Schreibtisch türmten.
In den mehr als sieben Stunden seit Retzlaffs Tod waren Akten aus zwei weiteren Außenstellen von Sieverstedt Import/Export hinzugekommen, und
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