Öffne deine Seele (German Edition)
Entführer ein Wildfremder war und nie ein Wort mit dem Moderator gewechselt hatte, hätte er sich all den Aufwand mit dem Vocodersignal sparen können.
Doch nach wie vor blieb die wahrscheinlichste Möglichkeit, dass die Stimme eben aus Telefonaten mit Marius bekannt war. Oder von einem pathetischen Auftritt vor den Fernsehkameras.
Aber warum dann diese räumliche Nähe? Warum dermaßen nahe, auch der Fundort des Wagens, kaum einen Steinwurf vom Gelände entfernt? Hatte der Nissan einfach schnell verschwinden müssen, nachdem der Entführer Hannah in seine Gewalt gebracht hatte?
«Aber warum der Audi?», murmelte Albrecht. «Warum steht Falk Sieverstedts Audi in Hausbruch?»
***
«Du glaubst also, mir meine Frage beantworten zu können, mein Freund Dennis?»
Mein Gott, Dennis.
Noch immer pocht mein Schädel im Nachhall der grellen Schmerzen, die sich in meine Schläfen gebohrt haben. Fluoreszierende Bilder auf meinen Augen, für die ich beinahe dankbar bin, weil sie mich ablenken von den Bildern und Vorstellungen in meinem Kopf.
Dennis. Wie muss sich Dennis fühlen, jetzt, in diesem Moment?
Ich kenne meinen Ehemann. Auch wenn wir viel zu wenig miteinander reden, viel zu viel zwischen uns unausgesprochen bleibt: Ich kenne ihn.
In der Sendung anzurufen, aus der Sicherheit unseres Hauses unter dem Schutz des Namens Parsifal und ein, zwei Gläschen Jack Daniels – das ist eine Sache.
Aber das hier?
Das Bild auf dem gigantischen Monitor zeigt nach wie vor mich. Ich kann Dennis nicht sehen, aber mit einem Mal kommt er mir nackt vor, ja, auf genau dieselbe Weise nackt wie ich. Ausgeliefert.
Er liefert sich aus. Für mich.
Und ich weiß, wie viel schwerer ihm in dieser Situation jedes einzelne Wort fallen muss, ohne jede Deckung.
Millionen Menschen hören seine Worte, vor den Fernsehern.
Doch ich weiß, dass das nicht das Schlimmste ist für ihn.
Ich höre zu.
«Wie lange seid ihr verheiratet, Dennis?», erkundigt sich Marius. «Hannah und du?»
«Sechs Jahre», sagt mein Ehemann leise, und ich weiß, dass er es genauer sagen könnte, sehr viel genauer.
Sechs Jahre, einen Monat und neunzehn Tage.
«Sechs Jahre. Ich entsinne mich, dass du mir davon erzählt hast, vor ein paar Wochen, als du noch Parsifal warst. Eine glückliche Ehe, hast du mir berichtet, zumindest am Anfang. »
Die letzte Bemerkung versetzt mir einen Stich.
Hat Dennis das zu ihm gesagt? Zumindest am Anfang?
«Verrätst du mir, wie ihr beide euch kennengelernt habt?», erkundigt sich Marius.
«Im …» Dennis räuspert sich. «In einem Café in Altona.»
«Oh?» Marius klingt erfreut. «Also ein Klassiker sozusagen. Du hast also in diesem Café gesessen, und zufällig siehst du diese Frau, die dir gefällt, und sprichst sie an? Du lädst sie auf einen Kaffee ein?»
«Ja. So ähnlich.»
«Einen Espresso? Entschuldige, Dennis, aber ich muss so neugierig sein, sonst kann ich Hannah und dir – und Dr. Merz – nicht helfen.»
Meine Hände sind gefesselt. Mein Tod ist vielleicht nur noch Minuten entfernt, und ich habe keinen Schimmer, wo ich mich überhaupt befinde – womöglich ein paar hundert Kilometer von den Männern im Studio entfernt. Doch in diesem Moment habe ich eigentlich nur einen einzigen Wunsch: aufzustehen und dieses Monster kaltblütig zu ermorden.
«Da können schon winzige Kleinigkeiten wichtig sein», erklärt Marius geduldig. «Und selbstverständlich …» Sein Tonfall verändert sich. «Und selbstverständlich ist dir klar, dass du bei der Wahrheit bleiben musst. Der vollständigen Wahrheit. Ich erkenne es sofort, wenn du mir etwas anderes erzählst als die Wahrheit.»
Dennis holt Luft. «Ich … Ich …»
Ich schließe die Augen.
Dennis’ Unfähigkeit, über die Dinge zu reden. Zu den Dingen zu stehen . Selbst wenn es keine Katastrophen sind, sondern … Alltäglichkeiten.
Doch auch manche Alltäglichkeiten sind sehr, sehr private und persönliche Alltäglichkeiten. Dinge zwischen ihm und mir, die niemanden etwas angehen. Keine eineinhalb oder mehr Millionen von Menschen.
«Ich …» Er kämpft. Ich höre und spüre sein Zittern und …
Ich ertrage es nicht mehr.
«Da war …» Ich hole Luft. «… eine Anzeige.»
«Oh?» Marius klingt verblüfft. Doch da ist ein Ton in seiner Verblüffung, der nicht echt ist.
Er hat es gewusst. Gewusst, dass er mich auf diese Weise zum Sprechen bringen kann.
Ich richte mich in meinem Folterstuhl auf, so weit das möglich ist. Die neue, engere
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