Öffne deine Seele (German Edition)
«Der Stromstoß, den ich ihr verabreicht habe, lag bei zehn Prozent der Spannung, die für gewöhnlich zur Vorbereitung einer Lobotomie eingesetzt wird. Auch hier lässt sich die Spannung übrigens stufenlos verstärken.»
Ich brauche Sekunden, bis ich mich an die unvertraute Helligkeit gewöhne.
Nahezu mein gesamtes Gesichtsfeld wird von einer Großleinwand eingenommen, auf die ein Bild projiziert wird.
Ein Bild, das mich zeigt, jetzt, in diesem Augenblick. Ich bewege die rechte Hand in ihrer Fessel, um es zu prüfen, und die überdimensionierte, an den Folterstuhl gefesselte Hannah macht die Bewegung mit.
Es ist das Bild, das in diesem Moment über die Fernsehschirme flimmert: Ich erkenne das Logo von Kanal Sieben oben in der rechten Ecke.
Ein scharf begrenzter Spot erfasst die Apparatur, auf der ich fixiert bin. Alles außerhalb davon ist unsichtbar.
Justus ist nicht zu sehen. Nicht einmal ein Schatten.
Ist er schon wieder verschwunden?
«Hannah.» Marius’ Stimme hat jetzt eindeutig einen Klang angenommen, wie er in seiner Show nur sehr, sehr selten zu hören ist. Ich muss an eine Sendung vor ein oder zwei Jahren denken, als er zwei Stunden lang mit einer jungen Mutter gesprochen hat, die ihn vom Dach des neuen Spiegel-Gebäudes in der Hafencity angerufen hatte. Eine der Selbstmordkandidatinnen, die er ernst genommen hat.
Zu Recht. Kaum dass der Akku ihres Handys leer war, ist sie gesprungen.
«Erinnerst du dich an das, was ich dir über Falk Sieverstedt erzählt habe, Hannah? Er musste eine Entscheidung treffen. All die Dinge aufgeben, die ihm letztlich nicht besonders viel bedeutet haben. Nur so konnte er die Chance auf das eine bekommen, das ihm wirklich wichtig war. So eine Chance hast auch du jetzt. Denn was könnte mehr bedeuten – als dein Leben? Öffne deine Seele, Hannah! Was ist es, das dir so schrecklich fehlt?»
«Ich …» Die Worte wollen nicht aus meinem Mund. «Ich kann nicht», flüstere ich.
Ich will leben. Um fast jeden Preis will ich leben.
Doch nicht um diesen Preis.
Nicht, wenn es bedeutet, dass ich Dennis …
«Ich kann antworten», sagt eine raue Stimme.
Es ist die Stimme meines Ehemanns.
***
«Ich kann antworten.»
Ruckartig drehte Merz den Kopf.
Die Besucherstühle waren bequem gepolstert und hatten sogar Armlehnen. Dennis Friedrichs’ Finger krampften sich um diese Lehnen wie bei jemandem, den seine Begleiter gegen seinen Willen in die Achterbahn gezerrt hatten.
«Oh?»
Auch Marius drehte den Kopf.
Seltsamerweise kam von Justus kein Widerspruch, zumindest im Moment nicht.
Doch die Männer im Studio hatten jetzt bereits zwei Mal erlebt, dass der Entführer nicht mit Worten reagiert hatte, sondern auf ganz andere, unvorhersehbare Weise.
Hannah war geschwächt, das war unübersehbar. Merz hatte erhebliche Zweifel, dass der Mann in der Lage oder auch nur willens war, seine Anreize so vorsichtig zu dosieren, dass sie nicht in Gefahr geriet, ganz gleich wie das Spiel um ihre Seele am Ende ausging.
Marius hatte offenbar denselben Gedanken.
«Eine interessante Entwicklung», murmelte der Moderator. «Eine Entwicklung allerdings, die keineswegs einzigartig ist in der Geschichte von Second Chance », betonte er. «Viele Freunde werden sich an unseren Freund Castor und seinen Lebenspartner Pollux erinnern, die vor einigen Jahren regelmäßig am Telefon zu Gast waren. Gemeinsam. Oder an Gawain, unseren lieben Freund Gawain, der einen harten Weg in die Selbständigkeit zu gehen hatte, hinaus aus der elterlichen Wohnung. Damals habe ich auch Gespräche mit Esmeralda geführt, seiner Mutter. – Wenn wir unseren Freund Parsifal …» Ein Nicken zu Dennis. «… nun also hinzuziehen, um die Seele unserer Freundin Hannah zu öffnen, sind wir weit davon entfernt, irgendeines der Gesetze von Second Chance zu brechen.»
Marius legte die Hände auf dem Tisch ab.
Keine Reaktion.
Nicht von Justus.
«Nicht Parsifal.» Dennis stand auf und zog seinen Stuhl näher an den Tisch, bis er auf einer Höhe mit Marius saß und der Lichtspot zwei Finger seiner rechten Hand erfasste.
Das machte im Grunde keinen Unterschied, da das Fernsehbild keinen von beiden zeigte, sondern nach wie vor die gefesselte Hannah. Es war die Geste, die zählte.
«Ich heiße Dennis Friedrichs», sagte Dennis. «Ich bin Immobilienmakler. Und Hannahs Ehemann. Wir leben in Seevetal.»
«Dennis!» Hannahs raue Stimme kam aus den Lautsprechern. «Dennis, bitte, tu dir das nicht an …»
«Ich liebe
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