Öffne deine Seele (German Edition)
Jaguar langsamer.
Einen Moment lang sieht selbst das Auto verdutzt aus.
Als wir auf gleicher Höhe sind, hält Merz den Wagen an.
«Also, wenn ich mit allem gerechnet hätte …» Hollywoodgrinsen.
Ich antworte nicht. Irgendwas von meiner Stimmung muss selbst bei Joachim Merz ankommen.
«Hannah? Ist alles in Ordnung?»
«Ich will ein Gespräch führen. Wenn du den Weg freigibst, kann ich durch.»
«Hmmm.» Er betrachtet mich.
Er versucht es zu übergehen, aber auch an ihm ist etwas anders als bei unserer letzten Begegnung.
Und er schaltet auf der Stelle um.
«Ich habe die Sendung gesehen», sagt er leise. «Gestern. Und ich habe keine Ahnung, wie er auf die Idee gekommen ist, dass …» Er schüttelt den Kopf. «Auf die Wahrheit», verbessert er. «Aber ich möchte, dass du weißt, dass er von mir nichts erfahren hat.»
«Ah ja», murmele ich. «Ein Gentleman genießt und schweigt.»
«Ich hoffe, du weißt noch, dass es so nicht war. Oder hattest du das Gefühl, dass ich mich einfach nur an dir bedient habe?»
Ich betrachte ihn, doch dann schüttle ich den Kopf.
«Entschuldige», sage ich leise. «Aber ich muss jetzt wirklich weiter.»
Er sieht mich an.
Einen Moment lang bin ich mir sicher, dass er aussteigen wird, und dann …
Unmöglich zu sagen, welche Macht er noch über mich hat, jetzt, in meinem momentanen Zustand, unmittelbar vor der irrsinnigsten Aktion meines Lebens.
Doch dann wirft er mir nur noch einen langen, langen Blick zu.
«Wir sehen uns», sagt er, mit nur einer winzigen Spur von Humor in der Stimme.
Ein Joachim-Merz-Satz. Ein Satz mit dieser kleinen, kaum wahrnehmbaren Prise mehr .
Ein Versprechen.
Das Wagenfenster schließt sich, und ich sehe den Rücklichtern nach, bis sie in Richtung Ehestorfer Heuweg verschwinden.
Langsam drehe ich mich um und betrachte die offene Schranke.
Jetzt, denke ich. Oder es ist zu spät.
Und, Wahnsinn oder nicht, selbst in diesem Moment erinnere mich daran, dass ich um acht mit meinem Mann zum Essen verabredet bin.
Und ich gedenke mein Versprechen zu halten.
Der erste Blitz zuckt vom Himmel, ganz in der Nähe. Die Schwarzen Berge sind der höchste Punkt weit und breit. Es donnert, tief und grollend, als wenn es gar nicht wieder aufhören wollte.
Der Donner …
Nein.
Das Geräusch dauert an, wird lauter.
Es ist Motorengeräusch, in meinem Rücken.
Stirnrunzelnd drehe ich mich um.
Kommt Merz zurück?
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Teil zwei
Now you’re standing there tongue tied.
You’d better learn your lesson well.
Depeche Mode – Policy of Truth
acht – Mittwoch, 26. Juni
E r stieß die Tür auf, und die Kälte war wie ein Messer in die Brust.
Tief sog Joachim Merz den Atem ein und hieß den Schmerz willkommen.
Schmerz empfinden hieß lebendig sein. Wenn er seine Morgenrunde beendet hatte, einmal rund um die Außenalster, was ihm mittlerweile in unter siebenundzwanzig Minuten gelang, würde jeder Muskel, jede Sehne in seinem Körper um Gnade wimmern, doch das Gefühl würde unvergleichlich sein.
Unvergleichlich lebendig.
Es war ein Spiel. Ein Spiel mit dosiertem Schmerz.
Er war kein Selbstmörder. Er wusste sehr gut, was er seinem Körper zumuten konnte, hatte ihn jahrelang an die Anstrengung gewöhnt.
Allerdings nur bis zu dem Punkt, dass sich der Schmerz weiterhin verlässlich einstellte.
Er begann langsam, durch die Alsterwiesen Richtung Norden.
Mit dem Unwetter, das in der Nacht über der Hansestadt getobt hatte, war die Temperatur um mehr als fünfzehn Grad gefallen. Das Gras dampfte. An einigen Stellen konnte er keine zehn Meter weit sehen.
Es war fünf Uhr dreißig am Morgen, doch um diese Jahreszeit bedeutete das schon Tageslicht – ein fahles, graues Licht heute, das die Wirklichkeit wie in Nebel hüllte, selbst dort, wo der Dunst sich lichtete.
Er erreichte die erste Brücke. Andere Läufer kamen ihm entgegen, doch das zählte nicht zu den Dingen, denen er Aufmerksamkeit schenkte. Er war sein Körper, war lebendig. An der zweiten Brücke, immer hier an der zweiten Brücke – über den Stichkanal zum Rondeelteich –, spürte er, wie zuverlässig der erste Schweiß aus den Poren trat, sich mit der Feuchtigkeit mischte, die an diesem Morgen in der Luft hing.
Dies war der Punkt, das Tempo anzuziehen.
Sechsundzwanzig Minuten und achtundvierzig Sekunden nach dem Start hatte er seinen Ausgangspunkt wieder erreicht.
Keine übermäßig gute Zeit, doch in der Nässe und Kälte hatte er die auch nicht
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