Öffne die Augen: Thriller (German Edition)
nahm mich nicht in die Arme– und das nach all den Nächten, die wir miteinander verbracht hatten. Ohne jede Erklärung zu seiner langen Abwesenheit oder seinem beruflichen Werdegang brachte er mich an den Drehort. Wir kamen in eine alte, leer stehende Weberei in der Nähe von Montreal, ich weiß nicht genau, wo es war. Dort gab es außer ihm und seiner Kamera nur schwarz gekleidete Männer mit Handschuhen. Ihre Gesichter konnte ich nicht sehen, da sie Kapuzen trugen. Es waren auch Matratzen und Lebensmittel für mehrere Tage vorhanden. Der Raum befand sich am Ende eines Lagerschuppens. Ich begriff, dass ich meine Zeit an diesem düsteren Ort verbringen würde. Und dann hörte ich seine Stimme: ›Zieh dich aus, Judith, tanz und lass alles mit dir geschehen.‹ Es war Herbst, mir war kalt, und ich hatte Angst, aber ich gehorchte. Dafür wurde ich schließlich bezahlt. Das Ganze dauerte drei Tage. Drei Tage Hölle. Sie haben die Sexszenen in dem Film gesehen, also gehe ich davon aus, dass Sie wissen, wie es weiterging.«
» Wir haben nicht die Szenen in ihrer Gesamtheit gesehen, nur unbewegte, versteckte Bilder. Subliminale«, berichtigte Sharko.
Die alte Dame schluckte mühsam.
» Wieder einer seiner Zaubertricks…«
Der Kommissar beugte sich vor.
» Erzählen Sie uns von den anderen Szenen. Sie auf der Wiese ausgestreckt wie tot.«
Judith Sagnol verkrampfte sich.
» Das war der zweite große Teil der Dreharbeiten. Ich musste nackt und ohne mich zu bewegen auf einer Wiese in der Nähe der Fabrik liegen. Draußen waren nur fünf Grad. Zwei von den Männern, die mit mir geschlafen hatten, malten eine widerwärtige Wunde auf meinen Bauch. Aber wenn ich mich ins Gras legte, war mir so kalt, dass ich zitterte und mit den Zähnen klapperte. Jacques war wütend, weil ich nicht ruhig liegen blieb. Er zog eine Spritze aus der Tasche und sagte, ich solle ihm meinen Arm hinhalten. Er…« Sie schlug die Hand vor den Mund. » Er hat gesagt, dann wäre mir nicht kalt, und ich würde mich nicht mehr bewegen… es würde auch meine Pupillen erweitern wie bei einer echten Leiche.«
» Haben Sie eingewilligt?«
» Ja, ich wollte den Rest des vereinbarten Geldes, und ich wollte, dass Jacques zufrieden mit mir war. Wir hatten zusammengelebt, ich glaubte, ihn zu kennen. Gleich nach dem Einstich fühlte ich mich von der Welt entfernt, ich fror nicht mehr und konnte mich fast nicht mehr bewegen. Man legte mich ins Gras.«
» Wissen Sie, was er Ihnen gespritzt hat?«
» Ich glaube, es war LSD . Seltsamerweise sind mir diese drei Buchstaben, von denen ich damals nicht wusste, was sie zu bedeuten hatten, jedes Mal wieder eingefallen, wenn ich an diese Szene dachte, auch noch viel später. Er hat den Namen sicher erwähnt, während ich völlig weggetreten war.«
Die beiden Ermittler sahen sich an. LSD … die Droge, die während der Experimente der Operation Artichoke eingesetzt wurde– das Thema eines der bei Szpilman gestohlenen Bücher.
» Jacques wollte immer Realismus und Perfektion. Die Maske reichte ihm nicht, also…«
Judith hob plötzlich den Saum ihres Kleides an und enthüllte ungeniert ihren nackten Körper. Ihr gebräunter Bauch war von weißen Narben überzogen, die wie kleine Blutegel unter der Haut wirkten. Sharko lehnte sich seufzend in seinem Sessel zurück, während Lucie reglos und mit aufeinandergepressten Lippen dasaß. Dieser gealterte Körper, der hier unter der warmen Sonne des Südens von vergangenem Leid zeugte, hatte etwas Bedrückendes.
Judith Sagnol ließ den Stoff sinken.
» Während er die Schnitte vornahm, spürte ich keinen Schmerz, ich begriff nicht einmal, was geschah, ich hatte eine Art… Halluzination. Jacques hat das stundenlang gefilmt, und es kamen immer neue Schnitte dazu. Sie waren nur oberflächlich und bluteten kaum, also hat er mit Schminke nachgeholfen. Seine Augen hatten einen grauenvollen Ausdruck, während er meine Haut einritzte… da habe ich begriffen…«
Die beiden Kripobeamten schwiegen, um sie zu ermuntern weiterzusprechen.
» Mir wurde klar, dass er diese kolumbianische Schauspielerin wirklich getötet hatte. Er war bereit, bis zum Äußersten zu gehen.«
Sharko und Lucie tauschten einen raschen Blick. Judith Sagnol war den Tränen nahe.
» Ich weiß nicht, wie er mit der französischen Justiz klargekommen ist. Wahrscheinlich hat er, ohne dass sie es gemerkt haben, eine Doppelgängerin dieser armen Frau präsentiert. Was mich betrifft, so hat er Wort gehalten,
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