Öffne die Augen: Thriller (German Edition)
ein Film über Kannibalen, einer der ersten dieser Art, und er war sehr stolz darauf. Aber wie konnte er im Zusammenhang mit einem solchen Horror von Stolz sprechen? In meinem ganzen Leben habe ich nie etwas so Abstoßendes, Widerwärtiges gesehen.«
Judith Sagnols Stimme war rau geworden. Sharko setzte sich zu Lucie an den Tisch.
» Warum hatte er Probleme mit der Justiz?«
» Der Film wurde im Dschungel gedreht, bei Regen, Hitze und Insektenplage. Das Team war völlig von der Welt abgeschnitten. Früher waren die Produktionsbedingungen nicht so komfortabel wie heute. Man schleppte die Ausrüstung, die Kameras und Zelte auf dem Rücken. Einige Mitglieder des kolumbianischen Teams sind nach Jacques’ Bericht sogar krank geworden: Malaria, Leishmaniose…«
» Und was hatte die Justiz damit zu tun?«
Sie rümpfte die Nase und zeigt ihre ebenso perfekten wie falschen Zähne.
» Im letzten Drittel des Films sah man eine Frau, die vom Anus bis zum Mund auf einen Pfahl gespießt war. Es war eine… abscheuliche Szene und absolut realistisch. Jacques musste vor Gericht beweisen, dass seine kolumbianische Schauspielerin noch lebte, und darlegen, wie er diese Trickaufnahmen gemacht hatte.«
Sie füllte ihr Glas erneut. Sie schien jetzt sehr verstört. Sharko sah in ihr eine alte Frau, die vergeblich den Lauf der Zeit aufzuhalten versuchte.
» Als er aus diesem verfluchten Land zurückkam, war er nicht mehr derselbe, er hatte sich sehr verändert. So als würden der Dschungel und seine Schatten ihn nicht loslassen. Jacques hatte mit Wilden gedreht, die zum ersten Mal in ihrem Leben mit zivilisierten Menschen zu tun hatten. Eine der schockierenden Einstellungen habe ich immer im Gedächtnis behalten: abgehackte und auf Pfähle gespießte Köpfe, die an einem Flussufer aufgereiht waren. Niemand weiß, was damals in dieser gottverlassenen Gegend geschehen ist…«
Sie rieb sich die Arme, als wäre ihr kalt.
» Der Misserfolg seines Films war ein erneuter Schlag für Jacques. Er ist von heute auf morgen aus der französischen Filmlandschaft verschwunden. Wir beide blieben befreundet und in Kontakt, und ich habe nie die Hoffnung aufgegeben, ihn zurückzuerobern. Aber nach einigen Monaten hörte ich nichts mehr von ihm. Irgendwann bin ich zu seinem Labor gegangen. Aber Jacques hatte sein gesamtes Material und seine Filme mitgenommen. Sein engster Mitarbeiter erzählte mir, er sei Knall auf Fall in die Vereinigten Staaten gegangen.«
» Wissen Sie, warum?«
» Das blieb unklar. Sein Assistent war davon überzeugt, dass er dort ein ernsthaftes Projekt hätte. Jemand hätte seine Filme gesehen und wollte mit ihm arbeiten. Aber mehr hat man nicht gehört. Niemand wusste, was wirklich aus ihm geworden war.«
» Niemand, außer Ihnen…«
Sie nickte mit ausdruckslosem Blick.
» Nachdem ich drei Jahre lang keine Nachricht bekommen hatte, erhielt ich dann 1954 plötzlich einen Anruf. Jacques fragte mich, ob ich nach Montreal kommen und ein paar Tage mit ihm arbeiten wollte. Die Gage war fürstlich. Ich suchte einen Job. Das war zu jener Zeit, als ich mich vor der Kamera öfter auszog als im Privatleben, und all das nur, um so gut wie nichts zu verdienen. Nackt zu drehen hat mich nie gestört, im Gegenteil, ich sagte mir, dass ich auf diese Weise sicher ein Star werden würde– aber Sie wissen ja so gut wie ich, dass das Illusionen sind. Ich durchlebte denselben Misserfolg wie Jacques, bekam nur Rollen in erbärmlichen Filmen für kranke Typen, sexbesessene Angeber. Also habe ich, ohne zu zögern, angenommen, ich brauchte das Geld. Und es war eine Gelegenheit, ihn wiederzusehen, vielleicht sogar die Chance, unsere Beziehung wieder aufleben zu lassen. Ich habe ihm gesagt, er solle mir das Drehbuch schicken, aber er meinte, das sei nicht nötig. Also bin ich blindlings ins kalte Wasser gesprungen. Er überwies mir die halbe Gage und bezahlte mein Flugticket, und dann war ich in Kanada…«
Sie schien noch immer nervös. Die beiden Kripobeamten hingen förmlich an ihren Lippen. Lucie vergaß ganz, sich Notizen zu machen. Der Champagner tat seine Wirkung, Judith Sagnol schwankte noch fünfzig Jahre später zwischen Zorn, Zärtlichkeit und Angst.
» Sobald ich den Fuß auf kanadischen Boden setzte, wusste ich, dass ich einen Fehler gemacht hatte. Jacques hatte einen Blick, wie ich ihn noch nie bei einem Menschen gesehen hatte. Lüstern, kalt und gleichgültig. Sein Kopf war fast kahl geschoren, er wirkte wie ein Gangster. Er
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