Öffne die Augen: Thriller (German Edition)
nach Lille ging morgens um 6:58 Uhr. Acht Stunden sind eine lange Zeit, wenn man nichts zu tun hat, nicht weiß, wohin man gehen soll. Lucie überlegte. Es kam nicht infrage, durch das nächtliche Paris zu laufen. Andererseits war es ihr unangenehm, mit ihrem kleinen Rucksack und ohne Kleidung zum Wechseln in ein Hotel zu gehen. Aber alles in allem war das die beste Lösung. Sie wollte sich von Sharko verabschieden, doch er war nicht da. Er stand zehn Meter weiter hinten, die Hände vor sich ausgestreckt, den Kopf zur Seite geneigt. Bisweilen hob er den Blick in Lucies Richtung, sodass diese den Eindruck hatte, Gegenstand einer heftigen Auseinandersetzung zu sein. Schließlich lächelte er und machte eine Bewegung, als würde er in eine unsichtbare Hand einschlagen. Lucie trat näher.
» Was tun Sie denn da?«
Er schob die Hände in die Taschen.
» Ich habe verhandelt…« Er strahlte. » Sie brauchen gar nicht zu suchen. Sie können bei mir übernachten, ich habe ein großes bequemes Sofa– sicher angenehmer als die ägyptischen Betten.«
» Ich kenne die ägyptischen Betten nicht, und ich möchte auf keinen Fall…«
» Sie stören mich nicht. Sie können mitkommen oder nicht, wie Sie wollen.«
» In dem Fall nehme ich an.«
» Gut, dann wollen wir uns beeilen, ehe der RER weg ist.«
Mit diesen Worten machte er sich auf den Weg zu den Verbindungstunneln. Ehe sie ihm folgte, wandte Lucie sich ein letztes Mal zu der Stelle um, wo der Kommissar zuvor gestanden hatte. Sharko war das nicht entgangen, er zog die Hand aus der Tasche und zeigte ihr lächelnd sein Mobiltelefon.
» Sie haben doch nicht etwa geglaubt, ich hätte Selbstgespräche geführt?«
Kapitel 36
Nach dem Telefonat auf dem Bahnsteig rechnete Lucie damit, die Frau des Hauptkommissars in der Wohnung anzutreffen. Die ganze Fahrt über hatte sie versucht, sich vorzustellen, welcher Charakter wohl zu einem Mann dieses Schlags passen könnte: eher der einer Dompteuse oder der eines sanften Lamms, bereit, jeden Abend die Anspannung über sich ergehen zu lassen, die ein Polizist im Laufe seines langen Tages in sich aufstaute?
Doch nachdem Sharko die Tür geöffnet hatte, begriff sie, dass niemand da war, um sie zu empfangen. Keine Menschenseele. Bevor er die Wohnung betrat, zog er seine Schuhe aus. Lucie wollte seinem Beispiel folgen.
» Nein, nein, lassen Sie die Schuhe an. Das ist nur eine Angewohnheit. Ich habe viele solche Macken, die ich nicht abzulegen vermag und die mir das Leben ganz schön erschweren. Aber was will man machen, so ist es eben.«
Hinter sich verriegelte er die beiden Schlösser an der Tür. Auf den ersten Blick bemerkte Lucie, dass es sich nicht wirklich um die Wohnung eines alleinstehenden Mannes handelte, denn es gab einige feminine Attribute: mehrere Pflanzen und ein Paar etwas altmodisch wirkende hochhackige Schuhe in einer Ecke. Doch im Wohnzimmer war der Tisch nur für eine Person zum Abendessen gedeckt. Das erinnerte sie an Luc Bessons Film Leon – Der Profi. Irgendwie ging von Sharko dieselbe Tristesse aus wie von dem gedungenen Killer, aber auch etwas sehr Sympathisches, das den Wunsch auslöste, ihn näher kennenzulernen.
Die gerahmten, leicht vergilbten Fotos einer schönen Frau bestätigten ihr, dass der Kommissar vermutlich Witwer war. Und überhaupt: Würde ein geschiedener Mann seinen Ehering tragen? An einer anderen Wand hing eine Fotocollage, die ein kleines Mädchen von der Geburt bis zum Alter von fünf, sechs Jahren zeigte. Auf manchen Aufnahmen waren alle drei zu sehen: er, die Frau und das Kind. Obwohl die Mutter lächelte, stellte Lucie einen merkwürdig abwesenden Ausdruck in ihrem Blick fest. Und auf jedem Bild drückte Sharko die beiden fest an sich. Ein Schauer lief Lucie über den Rücken, denn plötzlich begriff sie, dass Sharkos Familie etwas zugestoßen sein musste. Ein unsägliches grauenvolles Drama.
» Bitte, machen Sie es sich doch bequem«, sagte der Kommissar. » Ich komme um vor Durst, wollen Sie auch ein kühles Bier?«
Er sprach von der Küche aus mit ihr. Verwirrt stellte Lucie ihren Rucksack ab und trat in ein großes Wohnzimmer, das fast zu leer war. Ihr Blick fiel auf ein Glas mit Cocktailsauce und eine Schachtel glasierte Maronen, in einer Ecke stand ein Computer.
» Irgendetwas Kühles, egal was, danke. Sagen Sie, haben Sie Internet? Ich würde gerne etwas über Jacques Lacombe und das Syndrom E recherchieren.«
Sharko kam mit zwei Dosen Bier zurück und reichte ihr eine.
Weitere Kostenlose Bücher