Öffne die Augen: Thriller (German Edition)
Rücken, eintrat, fühlte sie sich wie eine lächerliche Ameise in einer Wüste aus Papier. Nach Aussage der ersten Angestellten, die sie traf, waren in diesem Gebäude mit den hohen stuckverzierten Decken und den wundervollen Lüstern mehr als zwanzig Kilometer Akten untergebracht, aufgeteilt in Privat-, Zivil- und Regierungsarchiv. Hier fand man alles über die großen Familien von Montreal, wie Papineau, Lacoste, Mercier, aber auch Informationen über Einwanderung, Erziehung, Energie, Tourismus, juristische Fälle– nicht zu vergessen die neun Millionen Fotos und die zweihunderttausend Zeichnungen, Karten, Pläne… Eine Stadt aus Papier in einer Stadt aus Stahl und Beton.
Um einen besseren Start zu haben, hatte Lucie sich vorbereitet und ihr Anliegen in wenigen Sätzen zusammengefasst. Sie stellte sich als französische Kripobeamtin auf der Suche nach einer Person vor, von der sie ein Foto hatte. Die erste Angestellte verwies sie an eine Kollegin, die sich offenbar besser in der Geschichte Quebecs der Fünfzigerjahre auskannte. Auf dem Namensschild, das die Dame am Revers trug, stand Patricia Richaud.
Lucie erklärte ihr kurz den Grund ihres Kommens.
» Ich suche ein kleines Mädchen, das in den Fünfzigerjahren in einem katholischen Waisenhaus war. Um genauer zu sein, würde ich sagen 1954 oder 1955. Die Einrichtung befand sich vermutlich in der Nähe von Montreal. Ich habe auch den Namen einer Nonne, die sich um sie gekümmert hat: Schwester Marie-du-Calvaire.«
Die Archivarin betrachtete die Fotografie des Mädchens auf der Schaukel und bat Lucie, ihr zu folgen.
» Wissen Sie, wie viele Marie-du-Calvaire es zu dieser Zeit gegeben hat? Diese Information wird Ihnen leider nicht viel weiterhelfen.«
Patricia Richaud war um die fünfzig, hatte ihr blondes Haar im Nacken zusammengebunden und trug eine kleine runde Brille. Die beiden Frauen folgten unendlich langen Gängen. Klare Linien, futuristisches Design. Es gab sogar geführte Besichtigungen: Mehrere Gruppen zogen durch die riesige Bibliothek. Nachdem sie mindestens fünf Minuten treppauf, treppab gelaufen waren, erreichten sie einen kleinen runden Raum, der keine Fenster hatte und von Neonleuchten erhellt war. Hunderte und Aberhunderte von Akten waren in mehreren meterhohen Regalen untergebracht, die über eine Rollleiter zu erreichen waren. Die Kommissarin las unter anderem: Straffällige Jugendliche (1912–1958), Sozialreformen (1950–1974). Die Archivarin blieb in der Mitte des Zimmer stehen.
» So, meiner Meinung nach haben Sie hier die besten Chancen, fündig zu werden. Die meisten dieser Akten betreffen Waisen unter sechzehn Jahren.«
Lucie interessierte sich besonders für die Abteilung » Religiöse Gemeinschaften (1925–1961)«. Als die Frau eine kleine Pause machte, deutete sie darauf und nutzte die Gelegenheit, um zu fragen:
» Und das da?«
Patricia Richaud griff instinktiv nach dem Kreuz, das sie an einer goldenen Kette um den Hals trug.
» Sie haben Glück, diese Archive sind erst vor wenigen Wochen bei uns eingetroffen. Vorher waren sie nicht öffentlich zugänglich, weil sie sich in religiösen Einrichtungen befanden. Aber die Provinz Quebec wendet sich mehr und mehr von der Religion ab und der modernen Welt zu, sodass die Orden aus Geldmangel einer nach dem anderen schließen. Wir übernehmen ihre Archive, da sie keine Möglichkeit zur Lagerung haben.«
Sie seufzte.
» Wie Sie sehen, sind es sehr viele Akten, da auch die umliegenden Städte und Regionen dabei sind. Früher gab es zahlreiche religiöse Gemeinschaften, die vor allem illegitime Kinder aufnahmen.«
» Illegitim? Können Sie das genauer erklären?«
Als hätte sie die Frage nicht gehört, ging die Archivarin zu einem metallenen Schubladenschrank. Sie öffnete eine der Schubladen, die viele Hängeordner enthielt.
» Hier ist der Index. Wenn Sie den Namen des Kindes hätten, würden Sie sofort die richtige Akte finden, eine Sache von fünf Minuten. Aber da Sie nur über dürftige Informationen verfügen, müssen Sie das Verzeichnis nach Aufnahmejahr oder Institution konsultieren, das dort in der anderen Schublade ist. Wahrscheinlich finden Sie dieselben Kinder zu verschiedenen Zeitpunkten in unterschiedlichen Einrichtungen wieder, denn Überstellungen waren damals an der Tagesordnung, und die Waisen blieben nur wenige Jahre am selben Ort. Sobald Sie die Karteikarte eines Kindes finden, das Sie interessiert, müssen Sie die entsprechende Akte heraussuchen und mit
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