Öffne die Augen: Thriller (German Edition)
Motorengeräusch zu ihm herauf. Reflexartig griff Sharko nach seiner Waffe und lief zum Fenster. Nachdem er das Licht ausgeschaltet hatte, hob er den Rollladen ein wenig an. Sein Hals war wie zugeschnürt. Ein Lastwagen mit orangefarbenem Blinklicht fuhr langsam am Bürgersteig entlang. Es war nur die Müllabfuhr, die wie jede Woche am frühen Morgen die Tonnen leerte. Einigermaßen beruhigt, nahm der Kommissar wieder am Tisch Platz. Das Blut pochte in seinen Schläfen, die durch seine Krankheit verstärkte Überreaktion und seine Paranoia hielten ihn wach und erschöpften ihn.
» Schwierigkeiten, Hauptkommissar?«
» Nein, nein. Sagen Sie, ist Ihnen zu Hause in Lille nichts Verdächtiges aufgefallen?«
» Welcher Art?«
» Zum Beispiel versteckte Mikrofone. Ich habe vier bei mir gefunden.«
Lucie, die mit untergeschlagenen Beinen auf dem Bett saß, erbleichte.
» Das Schloss meiner Eingangstür hat vor ein paar Tagen gehakt. Ich bin sicher, dass sie auch bei mir waren.«
Lucie war schockiert. Ein Eindruck von Vergewaltigung. Man war in ihre Wohnung, in ihren Kokon eingedrungen. Hatte vielleicht ihr Zimmer und das der Mädchen durchsucht.
» Wer war das?«
» Keine Ahnung. Sicher ist, dass der Colonel der Fremdenlegion in die Sache verwickelt ist.«
» Woher wissen Sie das?«
» Ich weiß es eben. Sprechen Sie mit niemandem über die Sache mit den Mikros, ja. Wir kümmern uns darum, wenn Sie zurück sind.«
» Warum?«
» Fragen Sie nicht so viel. Halten Sie mich auf dem Laufenden. Bis bald.«
» Hauptkommissar, warten Sie!«
Die Klimaanlage brummte laut. Sharkos Stimme tat ihr gut.
» Was ist, Henebelle?«
» Ich möchte Ihnen eine Frage stellen…«
» Welcher Art?«
» Haben Sie in Ihrer Laufbahn viele Leben gerettet?«
» Ein paar, ja. Aber leider nicht immer die, die ich mir gewünscht hätte.«
» Wir verschaffen den Familien der Opfer Erleichterung, indem wir die Mörder finden. Wahrscheinlich geben wir einer Handvoll Menschen neuen Lebensmut, weil wir ihnen eine Antwort liefern. Aber hatten Sie nicht irgendwann Lust, alles hinzuschmeißen? Haben Sie sich nie gesagt, dass die Welt ohne Sie nicht besser und nicht schlechter wäre?«
Sharko ließ seine Waffe auf dem Tisch kreisen. Er dachte an Atef Abd el-Aal… an die acht Kerben in dem Baumstamm. An all jene, die er hätte unschädlich machen können.
» Jedes Mal, wenn ich ein Lächeln auf den Gesichtern dieser Dreckskerle gesehen habe, die ich in den Knast brachte, hatte ich Lust aufzuhören. Denn dieses Lächeln kann weder durch Gitter noch durch Gefängnisse ausgelöscht werden. Dieses Lächeln findet man später im Supermarkt, in den Parks, den Schulen und überall, wohin man geht, wieder. Und von diesem Lächeln wird mir übel.«
Er schlug mit der Hand auf die Waffe, seine Finger umschlossen den Lauf.
» Ich wünsche Ihnen nur eines, Henebelle, nämlich dass Sie nie diesem verdammten Lächeln begegnen. Denn es dringt in Sie ein und verlässt Sie nie mehr.«
Lucie biss die Zähne zusammen. Sie starrte seufzend an die Decke. Es war jetzt völlig dunkel.
» Danke. Ich halte Sie auf dem Laufenden. Gute Nacht.«
» Gute Nacht, Henebelle. Passen Sie auf sich auf.«
Lucie legte traurig auf.
Sie begriff, dass es sehr schwierig werden würde, zu einem normalen Leben, zum Dasein einer Frau und Mutter, zurückzukehren. Denn diesem Lächeln, von dem er sprach, war sie viel zu früh, ganz am Anfang ihrer Laufbahn, begegnet.
Und es zerfraß sie seit langer Zeit.
Kapitel 44
Lucie hatte eine unruhige Nacht voller Albträume und quälender Bilder hinter sich: das Mädchen auf der Schaukel, der Stier, die Kaninchen, Judith Sagnol im Film, der aufgeschlitzte Augapfel, der Bauch mit der Wunde in Form eines großen schwarzen Auges.
Sie hatte sich in ihrem Bett hin und her gewälzt, die Minuten auf der digitalen Uhr des Fernsehers verstreichen sehen und den Morgen herbeigesehnt.
Schließlich war es hell geworden. Um Punkt neun Uhr lief sie über die Straßen von Montreal. Die morgendliche Frische half ihr, die Benommenheit zu überwinden und die steifen Glieder zu lockern.
Das Zentralarchiv von Montreal lag etwa hundert Meter vom Alten Hafen entfernt, in einem baumbestandenen Park. Es handelte sich um ein Regierungsgebäude aus großen weißen Steinen mit massiven Säulen, in dem früher die Hochschule für Wirtschaftswissenschaften untergebracht gewesen war.
Als Lucie, ihren Rucksack mit Obst, Wasserflasche, Notizheft und Stift auf dem
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