Öffne die Augen: Thriller (German Edition)
Montreal.
Montreal… ein Flaggschiff der Moderne inmitten der Fluten. Die Stewardess kontrollierte erneut, ob alle Sicherheitsgurte geschlossen waren. Lucies Sitznachbar, ein kräftiger Blondschopf, umklammerte seine Armlehnen, sodass seine Fingerknöchel weiß waren. Er sah sie mit seinem Cocker-Blick an.
» Und wieder habe ich das Gefühl zu sterben. Ich bewundere Menschen wie Sie, die überall schlafen können.«
Lucie antwortete mit einem höflichen Lächeln. Ihr Mund war trocken, und sie hatte keine Lust auf Small Talk. Die Maschine setzte sanft auf der Landebahn des Flughafens Pierre-Elliott-Trudeau auf. Die Außentemperatur war in etwa so wie die in Frankreichs Norden. Nicht wirklich eine andere Welt, zumal die Bevölkerung zum großen Teil französischsprachig war. Sobald die üblichen Formalitäten– Zoll, Papiere für internationale Amtshilfe, Warten auf das Gepäck und Geldwechsel– erledigt waren, winkte Lucie ein Taxi heran und ließ sich auf den Rücksitz fallen. Hier wurde es langsam dunkel, aber auf der anderen Seite des Atlantiks würde sich die Nacht bald ihrem Ende nähern.
Der erste Eindruck, den sie von Montreal hatte, war der einer modernen Stadt mit unglaublich vielen Lichtern. Die erhellten Fassaden der Wolkenkratzer schienen bis zu den Sternen aufzuragen, die zahlreichen Kathedralen und Kirchen waren rot, blau und grün angestrahlt. Im Zentrum überraschten Lucie vor allem die breiten, geometrisch angelegten Straßen. Trotz der pariserisch anmutenden U-Bahn-Eingänge und des Trubels um die kleinen Kneipen und Restaurants herum fehlte hier die Atmosphäre der lauen Nächte, die in der französischen Metropole herrschte.
Im Hotel Delta, einem blau erleuchteten Hochhaus, angekommen, fühlte sich Lucie zu erschöpft für eine Besichtigung von Montreal. Nachdem sie den Schlüssel an der Rezeption abgeholt hatte, fuhr sie in ihr Zimmer im fünften Stock, zog sich aus und ließ sich mit einem tiefen Seufzer aufs Bett sinken. Sie fühlte sich nicht wohl an diesem anonymen Ort, wo ein Unbekannter nach dem anderen nächtigte– Geschäftsleute, Urlauber. Es gab nichts Deprimierenderes, als abends allein zu sein, ohne einen Laut um sich herum. Das Lachen und Weinen ihrer Töchter, der ständige Lärmpegel in ihrer Wohnung, an den sie seit Jahren gewöhnt war, fehlten ihr. Wie konnte sie so weit von ihrem kranken Kind entfernt sein? Wie erging es Clara im Ferienlager? Fragen, die sich eine Mutter, eine gute Mutter, niemals stellen dürfte.
Trotz ihrer Sorgen schlummerte sie schließlich ein. Als das Hoteltelefon klingelte, schreckte sie hoch. Sie streckte die Hand nach dem Hörer aus.
» Hallo?«
» Schon eingerichtet, Henebelle?«
Schweigen…
» Hauptkommissar Sharko? Ehm… ich bin gerade angekommen. Warum rufen Sie mich nicht auf dem Handy an?«
» Das habe ich erfolglos versucht.«
Lucie blickte auf ihr Mobiltelefon, das neben ihr lag, die Batterie war geladen. Das Display zeigte keinen Anruf an. Sie versuchte, einen Wählton zu bekommen.
» Mist, anscheinend hat es die Zeitverschiebung nicht vertragen. Apropos Zeitverschiebung, bei Ihnen muss es vier oder fünf Uhr morgens sein. Und Sie sind schon wach?«
Sharko saß im Dunkeln am Küchentisch vor einer leeren Kaffeetasse und seiner entsicherten Sig Sauer. Er hatte das Kinn auf die Hand gestützt und den Blick auf die Eingangstür gerichtet. Das Telefon, das er auf Mithören geschaltet hatte, stand vor ihm. Auf dem Stuhl gegenüber summte Eugénie den letzten Song von Coeur de Pirate, aß glasierte Maronen und schlürfte einen Pfefferminzsirup. Sharko wandte den Kopf ab.
» Wie war die Reise?«
» Kurz gesagt, anstrengend. Das Flugzeug war voll mit Urlaubern.«
» Und ist das Hotel nett? Haben Sie eine Badewanne?«
» Eine Badewanne? Ähm… ja. Was gibt es sonst Neues?«
» Sehr positiv ist, dass ich bald eine Auflistung der zweihundert Personen bekommen werde, die zum Zeitpunkt der Morde an dem wissenschaftlichen Kongress in Kairo teilgenommen haben. Wir haben beschlossen, uns zunächst auf die Franzosen zu konzentrieren.«
» Zweihundert, das ist eine ganze Menge. Wie viele Männer sind darauf angesetzt?«
» Einer, und das bin ich. Aber da wir das Profil des Mörders aus dem Jahr 1993 haben, wird man viele vorab ausschließen können, so gut wie möglich vorsortieren, ehe die Verbleibenden genau unter die Lupe genommen werden. Sie können sich vorstellen, was das für eine Arbeit ist.«
Von der Straße drang
Weitere Kostenlose Bücher