Öffne die Augen: Thriller (German Edition)
ausdrucksvollen Augen, das ovale Gesicht…
Aufgeregt überflog die Kommissarin die wenigen Informationen. Alice Tonquin, geboren 1948 bei den Sœurs de la Miséricorde in Montreal… später Wechsel zu den Petites Franciscaines de Marie in Baie-Saint-Paul… und 1952 schließlich ins Hôpital de la Charité in Montréal. Ende des Werdegangs beziehungsweise Fortsetzung in einer anderen Akte, denn die, die sie vor sich hatte, betraf ausschließlich die Aufnahmen in der Charité.
Sie fand nur wenige und rein administrative Details, aber dennoch: Lucie verfügte endlich über den Namen der Gesuchten. Sie machte sich Notizen, kreiste den Namen » Hôpital de la Charité de Montréal« ein und griff nach dem Telefon.
Sie rief ihren Chef Kashmareck an, der seit Beginn der Ermittlungen von Frankreich aus mehrmals Kontakt mit der Sûreté von Quebec aufgenommen hatte. Sie bat ihn, eine Identitätssuche für Alice Toquin und Lydia Hocquart zu beantragen.
Während sie auf seinen Rückruf wartete, teilte sie Patricia Richaud mit, sie könne sie in einer halben Stunde– so lange würde sie brauchen, um die Akten aufzuräumen– abholen.
Dann ließ sich Lucie auf einen Stuhl sinken und trank ihre Wasserflasche bis auf den letzten Tropfen leer.
Sie hatte es geschafft. Anhand eines einfachen Fotos war es ihr gelungen, ans Ziel zu gelangen. Sie dachte an Alice, jenes anonyme Kind, das nun einen Namen hatte. Ein kleines Waisenmädchen, elternlos, das ohne Fixpunkte oder Bindungen von einem Kloster in ein anderes und dann in ein Krankenhaus abgeschoben worden war. Aufgewachsen in den kalten religiösen Einrichtungen: beten vor dem Essen, Hausarbeit, Nächte in düsteren Schlafsälen, Ordnung und Gottesfurcht. Wie mochte ihre Zukunft nach einem so katastrophalen Start verlaufen sein? Wie war sie aufgewachsen? Was war in dem Zimmer mit den Kaninchen geschehen? Lucie hoffte aus tiefstem Herzen, bald eine Antwort auf diese Fragen zu erhalten. Alice musste ihr Geheimnis offenbaren.
Als sie fünfundzwanzig Minuten später die letzten Akten an ihren Platz zurückstellte, klingelte das Telefon. Das war bestimmt Kashmareck. Lucie hob ab und ließ ihn gar nicht erst zu Wort kommen.
» Sagen Sie mir, dass Sie etwas herausgefunden haben!«
An der Art, wie sich ihr Chef räusperte, erriet Lucie, dass es wieder ein Misserfolg war.
» Ja, ich habe etwas, aber nichts Gutes. Zunächst mal gibt es keine Spur von dieser Alice Toquin. Weder in Kanada noch in Frankreich. Die Beamten der Sûreté haben zwar einen Personenstand, der bei ihrer Geburt im Krankenhaus von Trois-Rivières erstellt wurde, aber viel weiter reicht es nicht. Sie haben mir gesagt, in dieser Zeit sei es häufig vorgekommen, dass eine Identität sozusagen verloren ging. Die vielen Wechsel von einer Einrichtung zur anderen wurden nicht immer sorgfältig registriert. Nach 1955 ist sie vermutlich, wie die meisten Kinder damals, adoptiert worden und hat einen anderen Namen bekommen. Wenn sie heute noch lebt, dann wissen wir zumindest nichts über ihre Identität.«
» Herrgott noch mal, alle Welt scheint über diese Massenadoptionen informiert zu sein, außer uns. Und ihre Freundin Lydia Hocquart?«
» Sie ist 1985 in einem psychiatrischen Krankenhaus an Herzversagen gestorben. Sie litt unter starken Verhaltensstörungen, und ihr Herz hat die vielen Medikamente, die sie seit Jahren bekam, nicht mehr vertragen.«
» Lassen Sie sich alle Informationen geben und mailen Sie sie mir! Wie hieß das Krankenhaus, in dem Lydia lag?«
» Warten Sie… hier, Saint-Julien de Saint-Ferdinand in Halifax.«
» Und wie lange war sie schon dort?«
» Das weiß ich nicht. Das unterliegt der ärztlichen Schweigepflicht. Ist Ihnen klar, dass normalerweise ich derjenige bin, der die Fragen stellt?«
Hinter Lucie öffnete sich eine Tür. Patricia Richaud warf schweigend einen Blick durch den Raum, um sich zu vergewissern, dass alles aufgeräumt war.
» Wir sprechen uns später«, sagte Lucie.
Mit zusammengebissenen Zähnen legte sie auf. Schwere Verhaltensstörungen… psychiatrisches Krankenhaus.
» Haben Sie gefunden, was Sie suchten?«
Lucie zuckte zusammen.
Die kalte Stimme der Archivarin riss sie aus ihren Gedanken.
» Ähm… ja, ja. Ich habe den Namen und die letzte Einrichtung, in der sie aktenkundig war, das Hôpital de la Charité in Montreal.«
» Der Orden der Grauen Schwestern…«
» Wie bitte?«
» Ich habe nur gesagt, dass in dieser Klinik ein römisch-katholischer
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