Öffne die Augen: Thriller (German Edition)
Eugénie glücklich gewesen war? Und dass sie ihn nun endlich in Ruhe ließ?
Nein, nein, das konnte er nicht glauben. Er war krank, er litt an paranoider Schizophrenie und benötigte bis ans Ende seiner Tage Medikamente. So funktionierte das nicht. Nicht im wirklichen Leben.
Nachdem er seine Tablette geschluckt hatte, ging er ins Zimmer zurück. Lucie saß am Ende des Bettes und sah ihn an.
» Wirst du mir eines Tages erklären, warum du Tabletten nimmst?«
Als hätte er das nicht gehört, ging er zu ihr und umarmte sie.
» Es gibt Arbeit. Zuerst Frühstück, dann schauen wir bei den Klosterschwestern vorbei, und anschließend geht es zum Bahnhof. Gefällt dir dieses Programm?«
In knappen Sätzen erklärte er ihr die Sache mit dem Schließfachschlüssel. Lucie streckte sich, dann stand sie auf und drückte sich plötzlich an ihn.
» Mir ging es heute Nacht so gut wie lange nicht.« Sie seufzte. » Ich möchte nicht, dass es aufhört.«
Sharko legte seine Hände auf ihren Rücken und massierte sie mit einer Zärtlichkeit, die ihn selbst erstaunte. Er flüsterte ihr ins Ohr:
» Wir werden über alles nachdenken, einverstanden?«
Lucie verlor sich in seinem Blick und nickte.
» Eines Tages möchte ich wieder hierherkommen und das Land unter anderen Voraussetzungen entdecken als in einem wahr gewordenen Albtraum. Und das würde ich gerne gemeinsam mit dir tun.«
Sie löste sich aus seiner Umarmung. Dieser Augenblick hätte ewig dauern sollen. Sie wusste, wie zerbrechlich ihre Beziehung war, und dachte bereits an die Rückkehr nach Frankreich. Es bestand die Gefahr, dass die Dinge des Lebens sie trennen würden, ohne dass sie es überhaupt bemerkten.
» Ich muss in mein Zimmer gehen und meine Sachen holen. Eigentlich könnte ich den Schlüssel schon abgeben, was meinst du?«
» Du kennst die Verwaltung und die bösen Zungen. Lassen wir es lieber bei zwei getrennten Rechnungen. Meinst du nicht auch?«
» Ja, ja… du hast recht.«
Sie verließen das Hotel Delta. Wie zwei normale Touristen liefen sie gemächlich Seite an Seite Richtung Kloster der Grauen Schwestern, das dem Stadtplan nach, den sie im Hotel bekommen hatten, etwa einen Kilometer entfernt war. Ohne über die vergangene Nacht zu sprechen, bogen sie in den Boulevard René-Lévesque mit seinen eindrucksvollen Wolkenkratzern ein. Schließlich erreichten sie eine breite Allee, deren Zugang durch ein Gitter versperrt war.
Nachdem sie sich über die Sprechanlage vorgestellt hatten, öffnete sich eine Seitentür. Die Verkehrsgeräusche verblassten rasch, die Straße wurde statt von Hochhäusern von Gärten gesäumt. Am Ende erhob sich das Kloster, das ehemalige Allgemeinkrankenhaus von Montreal in H-Form. In der Mitte die Kapelle im romanischen Stil, deren Turmkreuz in der Sonne glänzte. Zwei lange graue Gebäudeflügel erstreckten sich zu beiden Seiten. Im Flügel Guy wohnten die Klosterschwestern und im Flügel Saint-Mathieu die Alten, Kranken und Waisen. Vier Stockwerke, Hunderte von identischen Fenstern, eine architektonische Strenge, die einem das Blut in den Adern gefrieren ließ… Lucie konnte sich die Atmosphäre, die hier in den Fünfzigerjahren geherrscht haben musste, lebhaft vorstellen. Disziplin, Armut, Selbstaufopferung.
Schweigend gingen sie an dem Gebäude aus dunklen Ziegeln entlang. Vor einem der Eingänge zum Flügel Guy trafen sie auf die Generaloberin der Grauen Schwestern. Ihr in Schwarz und Weiß eingerahmtes Gesicht wirkte ausgetrocknet, pergamentartig wie eine Hostie.
» Sie sind von der französischen Polizei, haben Sie gesagt? Was kann ich für Sie tun?«
» Wir würden gerne mit Schwester Marie-du-Calvaire sprechen.«
Das Gesicht der Mutter Oberin wurde noch angespannter.
» Schwester Marie-du-Calvaire ist über fünfundachtzig Jahre alt. Sie leidet an Arthritis und verbringt die meiste Zeit im Bett. Was wollen Sie von ihr?«
» Wir möchten ihr ein paar Fragen über die Vergangenheit stellen. Genauer gesagt über die Fünfzigerjahre.«
Der Blick der Nonne blieb undurchdringlich. Sie zögerte.
» Es geht hoffentlich nicht um irgendeinen Ärger mit der Kirche?«
» Nein, ganz und gar nicht.«
» Sie haben Glück. Schwester Marie-du-Calvaire besitzt ein ausgezeichnetes Gedächtnis. Es gibt Dinge, die vergisst man nie.«
Sie bat sie einzutreten. Sie folgten ihr durch kalte Korridore mit sehr hohen Decken, vorbei an vielen geschlossenen Türen. Man hörte Flüstern, entfernte Schattenpaare verschwanden wie
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