Öffne die Augen: Thriller (German Edition)
den Saal des Martyriums war unverständlich und außergewöhnlich.«
» Warum?«
» Normalerweise blieben die Neuankömmlinge in den anderen Sälen. Nur einige endeten schließlich im Saal des Martyriums, manchmal erst nach Jahren, weil sie sich schlecht benahmen und ständig rebellierten. Oder weil sie tatsächlich verrückt wurden.«
» Was ist aus diesen Waisenkindern geworden, aus Alice und den anderen?«
Die Finger der Nonne umklammerten ihr Kreuz, das sie an einer Kette am Hals trug.
» Sie wurden sehr bald von dem Arzt betreut, der für den Saal des Martyriums zuständig war. Er wurde ›Herr Superintendent‹ genannt. Er war knapp dreißig Jahre alt, mit einem schmalen blonden Bart und einem Blick, der einem das Blut in den Adern gefrieren ließ. Er war es auch, der regelmäßig bestimmte Kinder in andere Zimmer brachte, zu denen sonst niemand Zutritt hatte. Aber die Mädchen haben mir davon erzählt. Man führte sie gruppenweise in diesen Raum, wo sie stundenlang stehen und warten mussten. Es gab dort auch Fernseher und Lautsprecher, aus denen Geknall und sonstige Geräusche ertönten, um sie immer wieder zu erschrecken. Und es gab einen Mann, der sie filmte, immer in Begleitung des Arztes. Alice mochte ihn gern, sie nannte ihn Jacques. Sie verstanden sich gut, ihm hatte sie es zu verdanken, dass sie hin und wieder das Tageslicht sehen durfte. Er nahm sie mit in den etwas abseitsgelegenen Park des Klosters zu einer Schaukel, er spielte mit ihr, zeigte ihr Tiere, filmte sie. Ich glaube, er war ihr kleiner Hoffnungsschimmer.«
Sharko presste die Lippen aufeinander. Er konnte sich bestens vorstellen, wie dieser Hoffnungsschimmer bei einem Typen wie Lacombe aussah. Er fragte:
» In diesen Zimmern taten die Mädchen nichts anderes, als zu warten, Filme anzuschauen und sich erschrecken zu lassen? Keine anderen… gewaltsameren Experimente?«
» Nein. Man darf jedoch nicht meinen, diese Passivität sei harmlos gewesen. Die Kinder kehrten von dort gereizt und aggressiv zurück. Das führte natürlich dazu, dass sie im Saal des Martyriums weitere Strafen bekamen. Ein Teufelskreis. Vor dem Wahnsinn gab es kein Entrinnen, er lauerte überall. Draußen wie drinnen.«
» Haben die Mädchen Ihnen etwas von einem Versuch mit Kaninchen berichtet?«
» Wie sie mir erzählten, gab es tatsächlich manchmal in einem der Zimmer Kaninchen in einer Ecke. Aber… das ist auch alles. Ich habe nie wirklich verstanden, wozu das dienen sollte.«
» Wie hat es geendet?«
Die Nonne schüttelte ernst den Kopf.
» Ich weiß es nicht. Ich konnte nicht mehr. Mein ganzes Leben habe ich in den Dienst des Herrn und seiner Geschöpfe gestellt und fand mich in der Hölle auf Erden wieder, vom Wahnsinn überwältigt. Ich habe gesundheitliche Probleme vorgeschoben und bin aus Mont-Providence geflohen. Ich habe sie im Stich gelassen, die Kinder, die ich betreut hatte.«
Sie bekreuzigte sich und küsste zwanghaft ihr Kreuz. Die folgende Stille war entsetzlich. Lucie begann plötzlich zu frieren.
» Ich bin in meinen alten Orden zurückgekehrt, zu den Grauen Schwestern. Mutter Sainte-Marguerite hatte die unendliche Güte, mich zu verstecken und zu schützen. Man suchte mich, glauben Sie mir, und ich möchte nicht wissen, was passiert wäre, wenn man mich gefunden hätte. So aber haben meine alten Knochen das Jahrhundert überstanden, und mein Gedächtnis hat das Grauen nie vergessen, das dort im Hôpital Mont-Providence geschehen ist. Wie könnte man solche Gräuel auch je vergessen?«
Lucie blickte der Nonne tief in die glasigen Augen. Niemand konnte so etwas vergessen. Niemand.
Jetzt würden sie endlich die Wahrheit erfahren, ausgesprochen von diesen alten Lippen. Obwohl sie innerlich aufgewühlt war, bewahrte Lucie die Reflexe der Ermittlerin.
» Wir brauchen unbedingt den Namen dieses ›Superintendenten‹.«
» Natürlich… er hieß Doktor James Peterson. Diesen Namen hörten wir zumindest. Er unterschrieb nämlich mit Dr. Peter Jameson. James Peterson, Peter Jameson… ich weiß bis heute nicht, wie er wirklich hieß. Eines ist jedoch sicher, er wohnte in Montreal.«
Sharko und Lucie tauschten einen kurzen Blick. Sie besaßen nun die letzte Information. Die Nonne erhob sich, ging zu ihrem Betpult und kniete sich, Tränen in den Augen, nieder.
» Ich bete jeden Tag für diese armen Mädchen, die ich zurückgelassen habe. Es waren meine kleinen Töchter. Ich hatte sie heranwachsen sehen in diesen Mauern, bevor wir uns alle
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