Öffne die Augen: Thriller (German Edition)
aufgescheuchte Fliegen. Von irgendwoher ertönte ein dumpfes vibrierendes Geräusch. Christliche Gesänge…
» Hat Schwester Marie-du-Calvaire schon immer für Sie gearbeitet, Mutter Oberin?«, fragte Sharko fast im Flüsterton.
» Nein. Sie hat uns Anfang der Fünfzigerjahre auf Anweisungen von oben verlassen und war einige Jahre Mitglied der Kongregation der Schwestern der Charité du Mont-Providence, bevor sie wieder zu uns kam.«
Mont-Providence… diesen Namen hatte Lucie bereits im Archiv gehört. Sie reagierte sofort:
» Dann hat sie also in der Schule für geistig Zurückgebliebene gearbeitet, die von einem Tag auf den anderen auf Anordnung der Regierung Duplessis in eine psychiatrische Klinik umgewandelt wurde?«
» So ist es. Eine Klinik, die letztlich ebenso viele Verrückte wie Gesunde aufgenommen hat. Schwester Marie-du-Calvaire war dort viele Jahre lang tätig. Auf Kosten ihrer eigenen Gesundheit.«
» Und warum kam sie danach wieder zu Ihnen?«
Die Mutter Oberin drehte sich um. Ihre Augen glühten wie Kerzenflammen.
» Sie hat sich den Befehlen widersetzt und ist aus Mont-Providence geflohen, mein Kind. Schwester Marie-du-Calvaire ist seit über fünfzig Jahren ein Flüchtling.«
Kapitel 54
Das Zimmer der Ordensschwester war von einer an Ärmlichkeit grenzenden Einfachheit: graue Steinwände, ein Bett, ein Stuhl und ein Betpult, auf dem die Bibel lag. Die Dekoration beschränkte sich auf ein Kruzifix aus Zinn, das über dem Kopfende des Bettes hing, einen mit Büchern überfüllten Schrank sowie eine Uhr. Durch ein kleines ovales Fenster hoch oben in der Wand drang fahles Licht herein. Die alte Dame lag ausgestreckt auf dem Bett, die Hände über der Brust gefaltet, den Blick zur Decke gerichtet.
Die Mutter Oberin beugte sich zu ihr hinab und murmelte ihr etwas ins Ohr, bevor sie zu den beiden Polizeibeamten zurückkam. Langsam wandte Schwester Marie-du-Calvaire ihnen den Kopf zu. Ein dünner weißer Schleier zog sich über ihre Pupillen, durch den jedoch noch deren meerblaue Farbe zu erkennen war.
» Ich lasse Sie jetzt allein«, sagte die Mutter Oberin. » Sie werden den Ausgang leicht finden.«
Ohne ein weiteres Wort verschwand sie und schloss die Tür hinter sich. Schwester Marie-du-Calvaire erhob sich mit schmerzverzerrtem Gesicht und griff nach einem Glas Wasser, das sie langsam austrank. Ihr schwarzes Gewand fiel bis zum Boden, wodurch der Eindruck entstand, sie würde ihn nicht berühren. Anschließend kehrte sie zu ihrem Bett zurück, schob das Kopfkissen gegen die Wand und setzte sich.
» Bald ist Betstunde. Was auch immer Sie wünschen, ich bitte Sie, sich kurzzufassen.«
Trotz ihres Alters war ihre Stimme rau wie Schleifpapier. Lucie trat auf sie zu.
» Dann wollen wir gleich zur Sache kommen. Wir möchten Sie bitten, uns etwas über die Mädchen zu erzählen, um die Sie sich Anfang der Fünfzigerjahre gekümmert haben. Unter anderem Alice Tonquin und Lydia Hocquart. Außerdem suchen wir Informationen über Jacques Lacombe und den Arzt, der ihn begleitet hat.«
Die Nonne schien den Atem anzuhalten. Sie faltete ihre knochigen Hände vor der Brust. Hinter dem grauen Katarakt schienen sich die Pupillen zu weiten.
» Aber… warum?«
» Weil auch heute noch Menschen morden, um zu vertuschen, was Sie mit eigenen Augen gesehen haben«, übernahm Sharko das Wort und lehnte sich an das Betpult.
In dem folgenden Schweigen hörte man in der Ferne den Gesang von Nonnen.
» Wie haben Sie mich gefunden? Noch nie ist jemand gekommen, um mit mir über diese alte Geschichte zu sprechen. Ich lebe zurückgezogen und bin seit über fünfzig Jahren nicht mehr ausgegangen. Fünfzig lange Jahre.«
» Auch wenn Sie im Verborgenen leben, steht Ihr Name doch auf der Liste Ihrer Gemeinschaft. Die Liste sollte diese Mauern nie verlassen, da Ihr Orden jedoch in einem Jahr seine Pforten schließen wird, wurde sie ins Landeszentralarchiv übermittelt.«
Die alte Frau öffnete leicht den Mund und holte mehrmals tief Luft. Lucie hatte den Eindruck, dass ihre Pupillen sich noch mehr weiteten, um in eine ferne Zeit zurückzublicken.
» Seien Sie unbesorgt. Wir sind nicht gekommen, um irgendetwas anzuprangern oder Ihr früheres Handeln zu hinterfragen. Wir möchten einfach nur begreifen, was in diesen Jahren mit den kleinen Mädchen in der Klinik Mont-Providence geschehen ist.«
Die Nonne senkte den Kopf, die weiße Haube verbarg ihr Gesicht.
» Ich erinnere mich sehr gut an Alice und Lydia, wie
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