Öffne die Augen: Thriller (German Edition)

das heißt, ungefähr alle zweihundert Bilder–, gibt es auf ihrem Leib einen weiteren schwarzen Kreis. Wie eine zeitliche Abfolge. Und das alles, um zum Schluss…«
    Er betätigte wieder seine Kurbel bis zu jener eindrucksvollen Szene, wo das Kind und der Stier einander gegenüberstanden. Das folgende Bild war ganz anders.
    » …ein Auge zu bilden.«
    Lucie konnte kaum glauben, an was sie da geraten war. Man hatte diese Frau, ausgehend vom Bauchnabel, nach und nach zerschnitten. Offene Wunden auf ihrem reglosen weißen Körper, der im Gras ruhte. Und die Schnitte formten ganz offensichtlich eine Pupille mit Iris. Ein verstecktes, unheilvolles Auge, das einen beobachtete, durchbohrte, bis man nur noch den Blick abwenden wollte. Nicht mehr sehen. Lucie hatte den Eindruck, Tatortaufnahmen vor sich zu haben: das Opfer eines sadistischen, wahnsinnigen Mörders.
    » Das kann kein Trickfilm sein«, sagte sie. » Das ist so… realistisch.«
    Der Filmrestaurator nahm seine Brille ab und reinigte sie mit einem feinen Ledertuch. Ohne die stark vergrößernden Gläser wirkten seine Züge trotz der tiefen Falten feiner.
    » Das ist das Prinzip gut gemachter Trickfilme, und ich hege nicht den geringsten Zweifel, dass es sich hier um einen solchen handelt.«
    Die Schwarz-Weiß-Aufnahme ließ die Szene brutaler wirken, da sie den verstümmelten Körper von der Umgebung trennte. Lucie konnte es noch immer nicht fassen.
    » Wie können Sie da so sicher sein?«
    » Weil es sich um einen Film handelt, junge Frau, nicht um die Wirklichkeit. Die siebte Kunst ist die der Magie, der Illusion und des Trompe-l’ Œ il. Bei dieser Frau kann es sich ebenso gut um eine Puppe handeln. Durch die geschickte Arbeit der Maskenbildnerin und diverse Inszenierungseffekte wäre das durchaus möglich. Nichts ist real. Sicher ist, dass unser Regisseur besessen war vom Auge und von der Wirkung der Bilder auf das Gehirn. Ein Vorreiter, wie Sie sagen, wenn man bedenkt, in welchem Maße heutzutage das Bild unser Leben beherrscht und es mit Gewalttätigkeit füllt. Unsere Kinder sind täglich mit mehr als dreihunderttausend Bildern konfrontiert, können Sie sich das vorstellen? Und wissen Sie, wie viele davon mit Gewalt, Krieg und Tod zu tun haben?«
    Die Augen derer, die Lucie insgeheim als das Opfer bezeichnete, waren starr und leblos gen Himmel gerichtet. Verstört wandte sie sich wieder Claude Poignet zu.
    » Meinen Sie, dieser Film ist im Kino gelaufen?«
    » Nein, das kann ich mir nicht vorstellen. Die Perforierung ist, vor allem am Anfang der Rolle, in gutem Zustand. Zumindest diese Kopie ist nicht im großen Stil ausgewertet worden.«
    » Warum dann die Subliminals? Warum die ganze Inszenierung?«
    » Privatvorführungen, vielleicht. Mag sein, dass der Regisseur den Film auch anderen gezeigt hat. Eine persönliche Obsession. Wissen Sie, die Subliminals haben eine unglaubliche Wirkung. Ein direkter, zwischen gewöhnlichen Bildern verborgener Einfluss, der keiner Zensur unterliegt. Das Bild wird in das Gehirn projiziert. Ein ideales Mittel, um auf Umwegen Gewalt, Sex und Perversion zu transportieren. Heutzutage gibt es so etwas im Internet, sowohl im Bild wie im Ton. In den Texten gewisser Bands sind beispielsweise subliminale Nachrichten verborgen. Vielleicht war unser Regisseur ein Fan solcher Delirien? Wenn man bedenkt, dass der Film im Jahr 1955 entstanden ist… der Mann war wirklich ein Künstler, Hut ab.«
    Der Filmrestaurator schaltete den Monitor aus. Lucie ließ die Rolle nicht aus den Augen. Tausende von aufeinanderfolgenden Bildern, die dem Gehirn Leben oder Tod suggerierten. Das erinnerte sie an einen prächtig glitzernden Fluss, in dessen Tiefen unsichtbare und gefährliche Parasiten schwammen.
    » Ist der Film damit ausgewertet?«
    Claude Poignet zögerte kurz.
    » Nein, ich denke, er enthält noch etwas anderes. Warum ist er auf fünfzig Bildern gedreht? Und was hat dieser weiße Kreis am oberen rechten Rand zu bedeuten? Er erscheint auf jedem Bild. Und dann…«
    Er schüttelte den Kopf und presste die Lippen zusammen.
    » Dann ist da noch dieser Nebel, die dunklen Bildteile, das ständige Flimmern, als wäre ein Kasch vor dem Objektiv. Der Regisseur scheint mit Kontrasten, Licht und dem Unausgesprochenen zu spielen. Bei der Sichtung des Films habe ich dieselbe Beklemmung empfunden wie Sie. Die Pornoaufnahmen und die der gefolterten Frau reichen nicht aus, um ein so starkes Unbehagen zu erzeugen. Und vergessen wir nicht, dass