Öffne die Augen: Thriller (German Edition)
Zuneigung. Er sprach mit ebenso viel Leidenschaft wie früher ihr Vater von seinen Ködern und Angelruten.
» Und unser Film?«
» Ja, kommen wir zu unserem Film. Zunächst das Format: sechzehn Millimeter. Er ist ausschließlich mit einer Handkamera gedreht worden. Ziemlich sicher mit einer Bolex. Leicht und gut zu tragen, das war die Kultkamera der Fünfzigerjahre. Eigenartigerweise ist der Film, wie auf dem Vorlaufband vermerkt, auf fünfzig Bildern gedreht, Standard hingegen sind vierundzwanzig Bilder. Aber mit der Bolex konnte man solche Kapricen machen, sie bietet sehr viele Möglichkeiten.«
» Handelt es sich um ein Original?«
» Nein, nein, das Original, das aus der Kamera kommt, ist ein Negativ, genau wie bei einem Fotoapparat. Hier haben Sie eine Kopie, will heißen, das, was das Auge sieht. Man arbeitet immer mit einem Positivfilm, der auch als Rohkopie dient. So kann man sie ohne Risiko schneiden und bearbeiten.«
Er spulte das Band mit Hilfe einer Kurbel vor.
Auf dem Bildschirm erschien am unteren Rand das Wort:
SÅFETY .
» Dieser Aufdruck auf dem Vorband zeigt an, dass es sich bei der Emulsion um ungefährliches Acetat handelt. Bis zu den Fünfzigerjahren war sie im Allgemeinen noch aus entflammbarem Nitrat. Sie erinnern sich sicher an den Film Cinema Paradiso, in dem Philippe Noiret in der Vorführkabine Feuer fängt, weil er eine Filmdose öffnet, die einen Nitratfilm enthält. Eine Kultszene!«
Lucie nickte, obwohl sie den Film nie gesehen hatte. Die italienischen Klassiker waren nicht wirklich ihr Genre, ganz im Gegensatz zu den amerikanischen Gangsterfilmen der Fünfzigerjahre, die sie mit Leidenschaft betrachtete.
» Der schwarze Punkt über dem A zeigt, dass das Filmmaterial in Kanada hergestellt wurde, es ist das international von Kodak verwendete Zeichen.«
Kanada… Ludovic hatte erklärt, er habe den Streifen auf dem Speicher eines belgischen Sammlers entdeckt. Jetzt befand er sich in Frankreich. Diese anonymen Filme erlitten offenbar dasselbe Schicksal wie Briefmarken- oder Münzsammlungen, die von Land zu Land reisten. Lucie behielt im Hinterkopf, dass sie vielleicht den Sohn des Sammlers befragen sollte, sofern der Inhalt des Films interessant genug wäre. Sie musste zugeben, dass sie diese kleine Ermittlung außerhalb des normalen Dienstwegs sehr genoss. Claude Poignet schien ihre Gedanken erraten zu haben.
» Solche Filme wandern durch viele Länder und gehen dabei oft auch verloren. Über fünfzig Prozent der Werke aus der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg sind verschwunden, können Sie sich das vorstellen? Darunter Meisterwerke, die auf irgendwelchen Dachböden herumliegen: Méliès, Chaplin und auch viele von John Ford.«
» Kann man erkennen, von wann dieser hier stammt?«
Der Filmrestaurator drehte die Kurbel weiter. Als das erste schwarze Bild erschien, auf dem nur der weiße Kreis zu sehen war, deutete er auf den unteren Rand. Lucie entdeckte die Symbole + n zusammen mit einigen Zahlen direkt über der Perforation.
» Kodak verwendet zur Datierung des Filmmaterials einen Code aus geometrischen Symbolen, der sich alle zwanzig Jahre wiederholt.«
Er reichte Lucie ein in Plastik eingeschweißtes Blatt.
» Sehen Sie sich diese Tabelle an. Kreuz und Rechteck zeigen an, dass der Rohfilm entweder 1935, 1955 oder 1975 entwickelt wurde. Berücksichtigt man den Zustand des Materials und die Kleidung der Schauspielerin in der ersten Szene, gibt es keinen Zweifel, dass es sich um das Jahr 1955 handelt.« Er deutete mit dem Zeigefinger auf den Bildschirm. » Diese Nummer, die alle zwanzig Bilder auftaucht, bezeichnet man als Fußnummer. Sie identifiziert den Fabrikanten– in unserem Fall Kodak–, den Materialtyp, die Rollennummer sowie eine mehrstellige Zahlen-Buchstaben-Kombination, die jedes Bild adressiert. Das heißt, man kann ziemlich genau sagen, wann und wo das Rohmaterial aus dem Labor gekommen ist. Allerdings muss ich Ihnen gleich sagen, dass Sie damit nicht weiterkommen, da die Sache zu lange zurückliegt und man bei der heutigen Entwicklung davon ausgehen kann, dass es das Labor nicht mehr gibt.«
Er sah Lucie zufrieden an. Die Brillengläser vergrößerten seine Augen stark. Lucie erwiderte sein Lächeln.
» Gehen wir zum Inhalt über?«
Das Gesicht des Mannes verfinsterte sich sofort, und er schien mit einem Schlag seine gute Laune verloren zu haben.
» Ich hätte es Ihnen gleich sagen sollen: Dieser Film ist das Werk eines Genies und eines Psychopathen.
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