Öffne die Augen: Thriller (German Edition)
waren ebenfalls ohne Ergebnis zurückgekehrt. Von den Hunderten von Arbeitern– und ehemaligen Arbeitern–, die in dem Gebiet beschäftigt waren, hatte keiner etwas bemerkt. Aber schließlich lagen die Verbrechen auch so weit zurück, dass die Erinnerungen sicher nicht mehr besonders präzise waren.
Vorerst blieben die Leichen anonym. Plötzlich spürte Sharko, der sich erneut in die Akten vertieft hatte, eine Hand auf seiner Schulter. Er wandte sich um. Es war Péresse, der das Glas mit Cocktailsauce und die glasierten Maronen in Augenschein nahm und dann sagte:
» Wir haben eine ernsthafte Spur. Kommen Sie mit.«
Sharko begleitete ihn zu seinem Büro. Der Rouener Kommissar schloss die Tür hinter sich und deutete auf den Bildschirm seines Computers. Man sah ein in englischer Sprache verfasstes Dokument.
Ein Telegramm.
» Es kommt von Interpol. Sie werden nicht glauben, wie es zu uns gelangt ist. Einer ihrer Leute namens Sanchez hat sie aus dem Urlaub von einem Campingplatz in der Nähe von Bordeaux angerufen. Er hat in Ruhe seinen Aperitif getrunken und ferngesehen, und plötzlich hat er Sie am Auffindungsort der Leichen bei der Pipeline erkannt.«
» Ich war im Fernsehen? Denen entgeht auch nichts.«
» Daraufhin hat Sanchez in der Zentrale angerufen und sich erkundigt, an welchem Fall Sie arbeiten.«
» Ich kenne ihn gut. Bevor er nach Lyon versetzt wurde, haben wir Ende der Neunzigerjahre gemeinsam einige Ermittlungen durchgeführt.«
» Er hatte in letzter Zeit nicht oft ferngesehen und wusste nichts von dem Medienspektakel um diese Geschichte. Also haben seine Kollegen ihn informiert… die aufgesägten Schädeldecken und so weiter. Und da ist ihm etwas eingefallen. Er hat Recherchen im Archiv veranlasst, und stellen Sie sich vor, was sie gefunden haben?«
» Dieses alte Telegramm…«
» Genau. Ein Telegramm aus Ägypten. Genauer gesagt aus Kairo.«
Sharko deutete auf den Bildschirm.
» Sagen Sie mir, dass ich richtig sehe.«
» Ich kann es nur bestätigen. Es ist aus dem Jahr 1994. Drei junge ägyptische Mädchen aus Kairo sind brutal ermordet worden. Säuberlich mit einer ›Chirurgensäge‹ geöffnete Schädeldecken, Gehirnmasse und Augen entfernt. Verstümmelte Körper, einschließlich der Genitalbereiche mit dem Messer von oben bis unten aufgeschlitzt…«
Sharko spürte, wie ihn eine Art grässliches Fieber erfasste. Sein Brustkorb spannte sich an. Das ausgehungerte Jagdmonster kam wieder an die Oberfläche. Péresse fuhr fort:
» Die drei Morde haben sich innerhalb von knapp zwei Tagen abgespielt. Doch in diesem Fall waren die Leichen nicht vergraben, sondern irgendwo abgelegt worden. Unser Mörder hat es sich leicht gemacht.«
Der Pariser Kommissar straffte sich und schloss die Augen. Er stellte sich die von Messerstichen zerfetzten Mädchenkörper im Wüstensand vor. Die Gedärme den Aasvögeln zum Fraß dargeboten. All diese Bilder in seinem Kopf. Er sah wieder auf den Monitor und seufzte.
» Die Sache liegt schon so weit zurück, Serienkiller handeln meistens in kürzeren Abständen. Auch die Entfernung ist merkwürdig. Die Normandie und Kairo… das ist nicht gleich nebenan. Sollten wir es mit einem Reisenden zu tun haben? Hat Interpol andere, ähnliche Fälle gefunden?«
» Nein.«
» Das muss nichts heißen. Noch vor zehn Jahren waren solche Telegramme eine Seltenheit. Polizisten wollen, sofern sie überhaupt bereit sind, sich den Kopf zu zerbrechen, schon gar nicht ihre Zeit mit Papierkram verlieren. Unser ägyptischer Kollege war ein gewissenhafter Bulle– das ist fast schon ein Paradox.«
Sharko schwieg eine Weile und überflog das Telegramm– sein Gehirn arbeitete auf Hochtouren. Drei Mädchen in Afrika, fünf Männer in Frankreich. Schnitte, aufgesägte Schädeldecken, Gehirnmasse und Augen entnommen. Dazwischen lagen sechzehn Jahre. Warum ein so langer Abstand? Und warum überhaupt zwei Serien? Der Kommissar wandte sich wieder den dürftigen Angaben von Interpol zu.
» Der Verfasser des Berichts ist Mahmud Ab del-Aal… Ist das der Name des ägyptischen Polizisten, der den Stein ins Rollen gebracht hat?«
» Offenbar.«
» Und dieses Telegramm ist alles, was wir haben?«
» Im Augenblick ja. Zuerst haben wir Kontakt mit der Interpol in Ägypten aufgenommen, dann mit der Abteilung für technische internationale Zusammenarbeit in Kairo, die uns an einen Attaché der französischen Botschaft verwiesen hat, einen gewissen Mickaël Lebrun, der in direktem Kontakt
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