Öffne die Augen: Thriller (German Edition)
gesehen, das Elektrogitarre oder Schlagzeug spielte. Sie beschloss, keine Zeit zu verlieren und sich auf das Wesentliche zu konzentrieren.
» Sie haben noch bei Ihrem Vater gewohnt?«
» Gelegentlich. Wir haben kaum noch miteinander gesprochen, doch er hat es nicht fertiggebracht, mich vor die Tür zu setzen. Ja, ich bin hin und her gependelt zwischen der Wohnung meiner Freundin und dem Haus hier. Da er jetzt nicht mehr lebt, dürfte die Entscheidung klar sein.«
Er trank die Hälfte seiner Dose aus – ein Chimay rouge 7° – und stellte sie auf dem Glastisch neben einem Aschenbecher mit Resten mehrerer Joints ab. Die Polizeibeamtin versuchte, den Mann einzuschätzen. Ein rebellischer Junge, in seiner Jugend vermutlich verwöhnt. Der Tod seines Vaters vor wenigen Tagen schien ihn nicht sonderlich zu berühren.
» Erläutern Sie mir die Umstände des Unglücks.«
» Ich habe der Polizei schon alles erzählt, und…«
» Bitte.«
Er stöhnte auf.
» Ich war in der Garage. Seitdem mein alter Herr kein Auto mehr besitzt, haben wir dort unsere Musikinstrumente installiert. Ich war dabei, mit einem Kumpel und meiner Freundin ein Stück zu komponieren. Es muss so gegen zwanzig Uhr fünfundzwanzig gewesen sein, als ich von oben ein lautes Geräusch hörte. Ich stürzte erst hierher, denn zur Zeit der Abendnachrichten verlässt mein Vater nie seinen Fernsehsessel. Dann bin ich in den ersten Stock gelaufen und habe festgestellt, dass die Tür zum Dachboden offen stand. Das machte mich stutzig.«
» Warum?«
» Mein Vater war über achtzig. Er war zwar noch viel unterwegs, lief manchmal sogar zu Fuß in die Stadt, um in die Bibliothek zu gehen, aber nach ganz oben ging er nie, weil ihm die Stufen zu steil waren. Wenn er sich einen seiner Filme anschauen wollte, hat er mich immer vorher gefragt.«
Lucie wusste, sie war auf der richtigen Spur. Irgendetwas ebenso Plötzliches wie Unerwartetes hatte den alten Mann veranlasst, auf den Dachboden zu steigen, ohne seinen Sohn um Hilfe zu bitten.
» Und dann auf dem Speicher?«
» Dort, am Fuß der Leiter, habe ich ihn entdeckt.«
Mit feuchten Augen starrte Luc auf den Boden, hatte sich aber gleich wieder gefangen.
» Unter seinem Kopf war eine Blutpfütze. Er war tot. Ein komisches Gefühl, ihn so reglos mit geöffneten Augen daliegen zu sehen. Ich habe sofort den Rettungsdienst gerufen.«
Mit fester Hand griff er erneut nach seiner Bierdose. Sicher hatte der spätgeborene Sohn in seinem Erzeuger nur einen ungeschickten Greis gesehen, einen, mit dem er früher niemals hatte Fußball spielen können. Lucie sah auf zu dem Porträt eines älteren Mannes– ernster Blick, finstere Miene, strenger Gesichtsausdruck.
» Ist er das?«
Luc nickte, beide Hände umklammerten die Dose.
» Papa in seiner ganzen Pracht und Herrlichkeit. Ich war noch nicht geboren, als das Bild entstanden ist. Und er war schon fünfzig, das müssen Sie sich mal vorstellen.«
» Was war er von Beruf?«
» Konservator an der FIAF , der Fédération internationale des Archives du Film, die er auch später noch regelmäßig aufsuchte, um darin zu stöbern. Die FIAF ist eine Vereinigung der größten Filmarchive der Welt, mit dem Ziel, das filmkulturelle Erbe zu erhalten. Geschichte und Geopolitik dieser letzten hundert Jahre– das war seine große Leidenschaft. Die internationalen Konflikte, der Kalte Krieg, Spionage und Konterspionage… da kannte er sich bestens aus.«
Er hob den Kopf.
» Sie erzählten am Telefon, es gäbe ein Problem mit einem der Filme vom Dachboden.«
» Ja, das wird wohl der gewesen sein, den er an besagtem Abend vom Speicher holen wollte. Ein Kurzfilm aus dem Jahr 1955. In der Eröffnungsszene sieht man, wie einer Frau der Augapfel durchschnitten wird. Sagt Ihnen das was?«
Er nahm sich Zeit mit der Antwort.
» Nein, absolut nichts. Ich habe mir seine Filme nie angesehen. Diese alten Spionagegeschichten interessieren mich nicht. Und mein Vater hat sie sich immer in seinem Heimkino angeschaut. Er war ein Kinofan, ein Besessener, der sich denselben Streifen zwanzig, ja, dreißig Mal ansehen konnte.«
Er stieß ein nervöses Lachen aus.
» Papa… ich glaube, er hat viele dieser Filmrollen bei der FIAF geklaut.«
» Geklaut?«
» Ja, geklaut. Das gehörte zu seinen kleinen Sammlersünden, er konnte es einfach nicht lassen. Eine ausgeprägte Manie, wenn Sie so wollen. Ich weiß, dass er sich mit Kollegen einigte, die ebenfalls irgendwelche Streifen mitgehen ließen.
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