Öffne die Augen: Thriller (German Edition)
Straßen? Musste sie auch noch bis in die Intimsphäre der Familie vordringen?
Die Schatten senkten sich herab und besänftigten sie ausnahmsweise.
Im Pyjama zog Lucie den Sessel ans Bett und schlug ihr Nachtlager neben Juliette auf. Morgen früh würde sie im Kommissariat vorbeischauen, um ihre Vorgesetzten über diese Geschichte mit dem Film zu informieren, auch wenn kein Staatsanwalt wegen eines mehr als fünfzig Jahre alten Streifens Ermittlungen einleiten würde.
Dieser Hauptkommissar Sharko hatte Nerven: Untersuchung des Films durch die Kriminaltechniker, Hausdurchsuchung bei Szpilman! Als wäre das alles so einfach. Woher kam dieser eigenartige Bulle mit seinen Bermudas und seinen Bootsschuhen? Lucie konnte sich nicht von dem Eindruck befreien, den er bei ihr hinterlassen hatte: den eines Typen, der mit mehr Verbrechen konfrontiert gewesen war, als sie jemals in ihrem ganzen Leben sehen würde, der aber nichts nach außen dringen ließ. Welche Horrorszenarien verbargen sich in seinem Kopf? Was war sein schlimmster Fall gewesen? War er schon auf Serienmörder gestoßen? Wenn ja, auf wie viele?
Den Kopf voll mit finsteren Bildern, die Hand in der ihres Kindes, schlief sie schließlich ein.
Brutales Aufwachen. Das aufflammende Neonlicht bohrte sich unter ihre Lider. Im Halbschlaf machte sich Lucie nicht die Mühe, die Augen zu öffnen. Vermutlich handelte es sich um eine Krankenschwester, die sich zum x-ten Mal vergewisserte, dass alles in Ordnung war. Sie kauerte sich noch mehr in ihrem Sessel zusammen, als sie eine tiefe Stimme endgültig aus ihrer Benommenheit riss.
» Aufstehen, Henebelle!«
Lucie knurrte leicht. War das etwa…
» Hauptkommissar?«
Kashmareck hatte sich vor ihr aufgebaut. Sechsundvierzig Jahre, hart wie Stahl. Das weiße Licht grub Schattenzonen in sein kantiges Gesicht. Er deutete mit dem Kinn auf die Kleine, die, in ihr Laken eingerollt, noch immer schlief.
» Wie geht es ihr?«
Verlegen wegen ihrer dürftigen Bekleidung, zog Lucie ihre Decke ein wenig höher.
Bonjour Intimité.
» So lala… aber Sie sind ja wohl nicht hier, um sich nach meiner Tochter zu erkundigen. Was gibt’s?«
» Was glauben Sie? Es geht um ein blutiges Verbrechen. Um etwas… Ungewöhnliches.«
Lucie verstand den Sinn seines Besuches immer noch nicht. Sie setzte sich auf und schob ihre Füße in die Lammfellpantoffeln.
» Welcher Art?«
» Blutig. Heute Morgen rief uns ein Zeitungsausträger an. Er hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, gegen sechs Uhr früh bei seinem Kunden anzuklopfen, um einen Kaffee mit ihm zu trinken. Nur dass er den Kunden in dessen Küche, die Hände auf dem Rücken gefesselt, an der Deckenleuchte erhängt, vorgefunden hat. Noch dazu mit aufgeschlitztem Bauch…«
Lucie sprach ganz leise. Sie verstand immer noch nicht, was los war.
» Entschuldigen Sie, Hauptkommissar. Was hat das mit mir zu tun? Ich habe Urlaub und…«
» Man hat Ihre Visitenkarte in seinem Mund gefunden.«
Kapitel 16
Die Polizeiautos und der Wagen der Spurensicherung parkten noch in der Rue Gambetta, als Lucie schließlich eintraf. Sie hatte gewartet, bis ihre Mutter sie gegen neun Uhr im Krankenhaus abgelöst hatte. Vorher hatte sie lange mit Juliette gesprochen und ihr erklärt, dass sie bald alle drei ans Meer fahren, Hunderte von Sandburgen bauen und jeden Tag Eis essen würden.
Einstweilen aber kein Eis und keine Sandburgen. Stattdessen etwas Widerwärtiges, Abscheuliches: der Gestank eines Verbrechensschauplatzes.
Kashmareck war bereits wieder vor Ort. Im Krankenhaus hatte ihm Lucie alles, was den Film betraf, erklärt, so wie sie es auch Sharko berichtet hatte. Ihr gestriges Treffen mit dem Pariser Hauptkommissar sowie ihren Anruf bei der OCRVP – alles im Alleingang– hatte er mit einem Wutanfall quittiert. Das würde später noch Folgen haben.
Einen dicken Kloß im Hals, betrat Lucie das Wohnzimmer des Filmrestaurators Claude Poignet. Die Kriminaltechniker hatten überall starke Halogenlampen angebracht, um nichts zu übersehen. Der Mann oder die Männer, die bei Ludovic und dann bei Szpilman aufgetaucht waren, hatten ihren Film schließlich bekommen. Laut den Kollegen, die den ersten Stock durchsucht hatten, gab es nirgendwo eine Spur von dem mysteriösen Streifen. Lucie schüttelte verzweifelt den Kopf.
» Es ist meine Schuld. Ich habe ihn in die Höhle des Löwen getrieben. Er hat ganz friedlich hier gelebt, und heute…«
Sie beugte sich hinab und streichelte die Katze, die ihr um
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