Öffne die Augen: Thriller (German Edition)
verlassen. Wenn ich mein Handy wieder in Empfang genommen habe, rufe ich Lebrun an und entschuldige mich mit der Begründung, ich fühle mich nicht gut. Die Hitze, die Erschöpfung… Ich sage ihm, ich käme morgen noch einmal hierher. Und Sie suchen mich gegen zwanzig Uhr im Hotel auf– mit der Adresse, wie ich hoffe.«
Sie zögerte.
» Nein, nicht im Hotel. Nehmen Sie ein Taxi und…« Sie kritzelte ein paar Wörter auf ein Stück Papier und reichte es ihm. » Zeigen Sie ihm diesen Zettel, er fährt Sie dorthin.«
» Wo ist das?«
» Vor der Kirche Santa Barbara.«
» Santa Barbara? Klingt ja nicht gerade muslimisch.«
» Die Kirche befindet sich im koptischen Viertel von Altkairo. Der Name ist der eines jungen Mädchens, das zur Märtyrerin wurde, nachdem es versucht hatte, seinen Vater zum Christentum zu bekehren.«
Kapitel 19
Hôpital Freyrat, Kreiskrankenhaus von Lille, früher Abend. Das Refugium der Psychiatrie. Ein zweistöckiges Betonmonster, Sammelbecken aller mentaler Abweichungen. Schizophrenie, Paranoia, Traumata, Psychosen. Lucie betrat das nüchterne Gebäude und erkundigte sich am Empfang nach der Zimmernummer von Ludovic Sénéchal. Sie wollte ihn persönlich über den Tod seines Freundes Claude Poignet informieren. Man schickte sie in den ersten Stock.
Kleines Zimmer, in dem selbst ein Clown depressiv werden würde. Das weit oben an der Wand angebrachte Fernsehgerät war eingeschaltet. Ludovic lag auf seinem Bett ausgestreckt, die Arme im Nacken verschränkt. Langsam wandte er den Kopf in ihre Richtung und lächelte.
» Lucie…«
Überrascht trat sie näher.
» Du kannst sehen?«
» Ich erkenne die Konturen, die Farben. Personen ohne Kittel sind zwangsläufig Besucher. Welche andere Frau als du könnte mich besuchen?«
» Ich freue mich, dass es dir besser geht.«
» Doktor Martin sagt, ich würde mein Sehvermögen Schritt für Schritt zurückerlangen. Es ist nur noch eine Sache von zwei oder drei Tagen.«
» Wie sind sie vorgegangen?«
» Mit Hypnose… Sie haben verstanden, was nicht in Ordnung ist. Das heißt, sie haben verstanden, ohne zu verstehen.«
Lucie fühlte sich unbehaglich. Sie hasste diese Rolle der Todesbotin. Dem Blick der Angehörigen von Opfern standzuhalten, das gehörte zum Schwierigsten ihres Berufs. Sie tat alles, um diesen Moment hinauszuzögern.
» Das musst du mir erzählen.«
Ludovic richtete sich auf. Sein Pupillenreflex schien zu funktionieren.
» Der Psychiater hat mir alles erklärt. Er hat mich hypnotisiert und gefragt, was in den Stunden und Minuten vor meiner Erblindung passiert ist. Also habe ich ihm den Ablauf meines Tages erzählt. Meine Einkäufe bei dem verstorbenen Sammler in Lüttich, die anonyme Filmrolle, die ich auf dem Dachboden entdeckt habe. Wie ich allein im Taschenkino spätnachts die Streifen angeschaut habe. Dann die Bilder des besagten Kurzfilms. Das durchschnittene Auge, die Einstellungen mit der Kleinen auf der Schaukel. Und da habe ich urplötzlich angefangen, ihm von meinem Vater zu erzählen. Von den Frauen, die er in meiner Kindheit, kurz nach dem Tod meiner Mutter, ins Haus gebracht hat.«
» Das hast du nie erwähnt.«
Ein kurzes trockenes Lachen.
» Das musst du mir gerade sagen! Wir haben wochenlang gechattet, sieben Monate lang ein Verhältnis gehabt, und ich weiß nicht das Geringste von deinem Leben. Doch, ich weiß, dass du bei der Kripo bist, dass du zwei Töchter hast, die mich mögen, aber sonst… nada. «
» Das ist jetzt nicht das Thema.«
Er seufzte und machte eine traurige Miene.
» Mit dir ist nie etwas das Thema. Wie auch immer… es ist plötzlich während der Hypnose passiert. Die nackten Frauen, die ich manchmal aus dem Elternschlafzimmer kommen sah. All dieses… Stöhnen, das ich von nebenan mithörte. Ich war damals nicht mal zehn Jahre alt. Der Psychiater meint, diese Reaktion könnte daher kommen. Irgendetwas, wahrscheinlich ein Bild, hätte diese Erinnerungen geweckt und die hysterische Blindheit ausgelöst.«
Lucie hatte bereits vermutet, dass es einen Zusammenhang mit den Subliminalbildern gab. Ohne die Zensur des Bewusstseins waren sie in Ludovics Psyche vorgedrungen und hatten dort ein Chaos ausgelöst.
» Doch das hatte mich nicht blind gemacht, denn ich konnte den Verlauf des Films erzählen. Von diesem kleinen Mädchen. Wie sie aß, wie sie schlief. Wie sie die Kamera mit der Hand verscheuchte, so als wäre sie wütend. Dann hat mir der Psychiater mitgeteilt, ich hätte während
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