Öffne die Augen: Thriller (German Edition)
dieses Telegramm geschickt. Er war damals mit dem Fall beschäftigt. Hauptkommissar Sharko möchte mit ihm sprechen.«
Noureddine erstarrte, schob das Papier abrupt zur Seite und stieß einen Schwall von Worten aus.
» Ich gebe wörtlich wieder: Dieser Hundesohn Abd el-Aal ist tot.«
Der Satz saß wie ein exakt platzierter Aufwärtshaken.
» Wie bitte?«
Der Ägypter fuhr fort und bleckte dabei die Zähne. Über seinem viel zu engen Hemdkragen traten die Halsvenen hervor.
» Er wurde wenige Monate nach dieser Geschichte am Ende einer düsteren Gasse im Viertel Sayeda Zeinab verbrannt aufgefunden. Eine Abrechnung zwischen islamistischen Extremisten. Die Polizei, so Pascha Noureddine, hat nach dem Drama die Wohnung von Abd el-Aal durchsucht und, versteckt zwischen seinen persönlichen Sachen, die Charta einer islamistischen Untergrundorganisation entdeckt. Darin waren Passagen von der Hand Abd el-Aals unterstrichen. Er war ein Verräter, und in unserem Land ›krepieren‹ Verräter am Ende wie die Hunde.«
Als sie in die Halle traten, rückte Noureddine seine Kopfbedeckung energisch zurecht. Er neigte sich zu Nahed vor und legte ihr die Hand auf die Schulter. Die junge Frau ließ ihren Schreibblock fallen und bückte sich danach. Der Ägypter redete lange auf sie ein und schlug dann die Richtung ein, aus der der Frauengesang kam.
» Was hat er gesagt?«, fragte Sharko.
» Dass in dem Büro, in das wir jetzt gehen, ein Stadtplan aufgehängt ist.«
» Er scheint aber viel länger mit Ihnen gesprochen zu haben.«
Sie strich nervös ihr Haar zurück.
» Das ist nur ein Eindruck.«
Sie führte ihn in einen dürftig ausgestatteten Büroraum– Schreibtisch, Stühle, Tafel, kein Computer. Das einzige Fenster führte auf die Qasr al-Nil-Street hinaus. Sharko betätigte den Schalter, um den Ventilator an der Decke in Gang zu setzen.
» Er funktioniert nicht. Sie haben uns absichtlich dieses Büro zugewiesen.«
» Nein, nein, wo denken Sie hin? Der reine Zufall.«
» Der Zufall, genau. Es gibt keinen Zufall mit diesen Leuten.«
» Seit Sie hier sind, machen Sie mir einen etwas… misstrauischen Eindruck, was uns betrifft, Kommissar.«
» Das ist nur ein Eindruck.«
Der Bulle bemerkte einen Wachposten, der nicht weit entfernt von der Glastür stand. Man ließ sie beobachten. Ganz offensichtlich hatten die Instruktionen schon die Runde gemacht.
» Kann man Fotokopien machen?«
» Nein. Alles ist durch Codes gesichert. Nur die Computer der Offiziere sind mit USB -Anschlüssen und CD -Rom-Laufwerken ausgestattet. Nichts kommt von hier nach draußen.«
» Geheime Informationen, versteht sich. Gut, begnügen wir uns mit dem Vorhandenen.«
Sharko öffnete die Akte. Er tauchte die Hand in das Plastiktütchen mit den Fotos und zögerte, sie herauszunehmen. Er war nicht in Bestform, und Nahed machte einen verwirrten Eindruck.
» Meinen Sie, Sie schaffen es?«, fragte er.
Sie nickte stumm. Der Kommissar breitete die Abzüge vor sich auf dem Tisch aus. Die junge Frau zwang sich, sie anzuschauen, und schlug die Hand vor den Mund.
» Das ist grauenhaft.«
» Ansonsten wäre ich nicht hier.«
Dutzende Fotos stellten den Tod in all seinen Variationen dar. Man hatte die Leichen offensichtlich nur wenige Stunden nach ihrem Tod fotografiert, die Hitze indes hatte bereits das ihre getan. Sharko musterte das Grauen genauer. Die Toten waren im Freien abgelegt und mit Messern traktiert worden, allem Anschein nach aber ohne die Absicht der Inszenierung. Der Kommissar griff nach den Karteikarten und betrachtete die von den Familien beigebrachten Fotos der Opfer. Bilder von schlechter Qualität, aufgenommen in der Schule, auf der Straße, im Haus. Doch sie lebten, lächelten, waren jung und hatten eines gemeinsam: ihr Alter– fünfzehn, sechzehn Jahre–, Augen und Haare schwarz. Er reichte Nahed die Papiere und bat sie zu übersetzen. Gleichzeitig inspizierte er den Plan von Kairo mit all den Straßennamen auf Arabisch. Ein Koloss, diese Stadt, von Nord nach Süd aufgeschlitzt durch den Nil, im Osten und Südosten begrenzt von den Ausläufern der Mokattam-Hügelkette, im Süden gesäumt von einer ausgedehnten Sandebene mit den verstreuten Ruinen der alten Stadt Memphis.
Der Kommissar steckte Heftzwecken an die Stellen, die ihm die junge Frau zeigte. Die Leichen der Opfer waren im Abstand von etwa fünfzehn Kilometern an einem Kreisbogen um den Großraum Kairo gefunden worden. Das Viertel der Müllsammler im Nordosten, die
Weitere Kostenlose Bücher