Öffne die Augen: Thriller (German Edition)
Beruf das Leben seiner Familie zerstört hatte und auch ihn langsam, aber sicher in die Abgründe eines Alters ohne Sonne führen würde. Nein, nein, es gab nichts zu sagen. Nicht jetzt, nicht hier. Nicht ihr gegenüber.
Zehn Minuten später erreichten sie die Talaat-Harb-Street. Bars und Modegeschäfte, Kinos mit französischen Namen, Wohnhäuser im Haussmannschen Stil mit ihren Säulen, ihren Fenstern, verziert mit griechisch anmutenden Statuen, erinnerten daran, dass die ägyptische Elite um neunzehnhundert das Zentrum von Kairo in ein europäisches Viertel verwandeln wollte. Das war ihr fast gelungen. Gruppen von Touristen– Amerikaner, Franzosen und Italiener– liefen die Straße entlang. Nahed fand einen Platz in einer Seitengasse und steckte gleich darauf dem Hausmeister eines Wohnblocks ein Bakschisch zu, nur weil er ihnen die Tür geöffnet hatte. Der Babou mit dem hennaroten Bart fungierte als Portier, Autowäscher, Bote und passte so gar nicht in dieses noble Gebäude, allem Anschein nach ein Haus für Reiche.
Als sie allein mit Sharko im Aufzug war, legte die junge Frau einen Schleier über den Kopf. Im Handumdrehen verwandelte sie sich in ein rätselhaftes und geheimnisvolles Wesen. Nur ihre wundervollen Augen waren noch zu sehen, und der Mund, den man durch den dünnen Stoff erahnte, erklärte mit heller Stimme:
» Es wäre doch schade, wenn sich Atef Abd el-Aal aus religiösen Gründen verschließen würde.«
» Woher wissen Sie, dass er Muslim ist?«
» Es spricht mehr dafür als dagegen.«
» Was wissen Sie über ihn?«
» Die Kartei der Botschaft hat nicht viel hergegeben. Er war Verkäufer und besitzt heute zwei Schneiderwerkstätten für Hemden. Das Geschäft, das er ein Jahr nach dem Tod seines Bruders aufgebaut hat, läuft sehr gut. Er verkauft die Hemden an Boutiquen in Alexandria. Sein verstorbener Bruder und er selbst stammen aus Oberägypten. Kinder armer Eltern, die auf dem Land geboren wurden. Als Jugendliche sind sie mit ihrem Onkel nach Kairo gekommen.«
Sie klopfte an eine Tür. Eine alte Dame mit faltigem Gesicht öffnete die Tür daneben. Nahed sprach mit ihr und wandte sich dann an den Kommissar.
» Die Nachbarin sagt, er sei auf der Terrasse. Um diese Zeit trinke er vor dem Abendgebet da oben immer seinen Tee. Wir erkennen ihn an der unabhängigen Zeitung Al-Ahram, die er liest.«
Als Sharko auf besagte Terrasse trat, bekam er einen Schock. Auf dem Dach des Wohnhauses lebten Menschen in winzigen Wellblechhütten. An Kabeln aufgehängte bunte Laternen bewegten sich im Wind wie die Segel der Feluken. Die Leute saßen unter freiem Himmel in Sesseln oder lagen auf Matratzen. Überall in der anbrechenden Dunkelheit flimmerten Fernsehbildschirme. Man hätte sich in einer Art erleuchtetem Ameisenhaufen wähnen können.
» Früher haben die Reichen in diesen Häusern an der Talaat-Street gewohnt. Grundbesitzer, Paschas, Minister. Die Hütten dienten ihnen zur Lagerung von Lebensmitteln, zum Wäschewaschen oder für die Hunde. Nach der Revolution von 1952 hat sich alles verändert. Heute leben die Sufragi, die ehemaligen Dienstboten, hier und vermieten die Hütten an die Armen.«
Es war kaum zu glauben, aber diese Menschen hausten wirklich auf weniger als fünf Quadratmetern, und das in der Hauptgeschäftsstraße von Kairo. Das Elend war nicht wie in Paris am Boden oder in der Metro zu finden, sondern auf den Dächern. Nahed deutete auf das andere Ende der Terrasse.
» Er ist dahinten…«
Misstrauische Blicke richteten sich auf sie. Männer mit geröteten Augen lagen ausgestreckt da und bereiteten die » Kohle« vor, das heißt, sie erwärmten ein Stück Opium, um es dann unter der Zunge zergehen zu lassen, während andere ihr Moassel, den Tabak, für ihre alten Wasserpfeifen mit Haschisch mischten. Die Kinder spielten Domino, andere lernten, und die Frauen kochten. Sharko und Nahed näherten sich Atef Abd el-Aal, der auf einem geflochtenen Stuhl genau an der Terrassenbrüstung saß.
Er war höchstens fünfundvierzig Jahre alt, trug einen gut geschnittenen grauen Anzug und polierte Schuhe. Das Haar war mit Brillantine glatt zurückgekämmt. Seine dampfende Tasse stand auf der weißen Steinmauer. Er erhob sich nicht, um sie zu begrüßen, und warf ihnen zwei knappe Worte zu, die Sharko nicht verstand. Daraufhin erklärte Nahed die Situation ausführlich auf Arabisch. Sie sagte, der Mann neben ihr sei ein französischer Kommissar. Er wolle ihm einige Fragen über seinen
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