Öffne die Augen: Thriller (German Edition)
Julien Marquant deutete auf die Fotos.
» Wollen Sie meine Meinung hören? Ich glaube, die Mörder haben die Kamera gehalten. Sie müssen sie… ich weiß nicht, wie, neben dem sterbenden Opfer aufgestellt haben. So als wollten sie das Letzte einfangen, was er vor seinem Tod gesehen hat.«
Lucie betrachtete die Abzüge und fröstelte. Was sie vor sich sah, waren die letzten Sekunden von Poignets Leben. Mit diesen Bildern vor Augen hatte der arme Mann die Welt verlassen: ein Unbekannter mit Rangers, der beobachtete, wie ein anderer Poignet erwürgte.
» So als wäre Claude Poignet selbst die Kamera. Diese Dreckskerle wollten sich in ihn hineinversetzen.«
» Ganz genau so ist es. Das Opfer besaß ein Entwicklungslabor, eine alte Sechzehn-Millimeter-Kamera und Rohmaterial. Das haben die Mörder ausgenutzt. Sie haben gefilmt und dann in der Dunkelkammer die Bilder entwickelt, die sie interessierten. Anschließend haben sie sie ausgeschnitten und in die Augenhöhlen des Opfers gesteckt. Das Ganze muss eine gute Stunde gedauert haben.«
Lucie presste die Lippen zusammen. Diese beiden Irren hatten sich nicht damit begnügt, die Filmrolle an sich zu nehmen. Vielmehr hatten sie ein Szenario entwickelt, das perfekt in einen Horrorfilm gepasst hätte und der Polizei Rätsel aufgab. Überlegt handelnde und organisierte Täter, die sich so sicher fühlten, dass sie sich länger am Tatort aufgehalten hatten, um zu sich zu amüsieren. Lucie legte ihre Überlegungen dar:
» Aber sie enthüllen uns damit freundlicherweise zwei Elemente. Die genaue Lage des Körpers, ehe er aufgehängt wurde, und die Schuhe. Rangers. Das bestätigt die These, dass der Mann, der Szpilman einen Besuch abgestattet hat, auch einer der beiden Täter ist. Vielleicht jemand vom Militär?«
» Oder jemand, der sich als solcher ausgeben will, oder keines von beidem, denn heute kann sich jeder Rangers kaufen. Ich würde vor allem hinzufügen, dass sie sich mit Filmen auskannten. Einer von beiden kann eine Kamera bedienen und den Film in der Dunkelkammer entnehmen. Denn wenn man keine Ahnung hat, bringt man so ein altes Ding nicht zum Laufen, das können Sie mir glauben.«
» Die Spurensicherung hat in der Dunkelkammer keine anderen Fingerabdrücke gefunden als die des Opfers. Wir müssen noch mal einen Kriminaltechniker hinschicken, damit er sich das Material und die Kameras ansieht. Denn vor allem durch den Kontakt von Sucher und Auge hat der Mörder bestimmt DNA -Spuren hinterlassen. Sie haben mit Sicherheit irgendeinen Fehler gemacht. Man kann nicht einfach so mit dem Tod spielen…«
Sie nahm die Aufnahmen an sich und bedankte sich. Langsam und gedankenverloren trat sie auf die Straße. Nach dem » Wie« stellte sich jetzt die Frage nach dem » Warum«. Warum hatten die Mörder diese Bilder anstelle der Augen zurückgelassen? Was wollten diese Sadisten damit zeigen?
In diese psychologischen Überlegungen versunken, musste sie an Sharko denken, den eigentümlichen Mann, mit dem sie sich am Gare du Nord kurz getroffen hatte. Würde er aufgrund seiner Kenntnisse und der jahrelangen Erfahrung eine Antwort finden können? Wäre er besser als sie, wenn er mit einem Tatort wie diesem konfrontiert wäre? Sie hätte brennend gerne mit ihm über diesen neuen Mord gesprochen, um zu sehen, wie er die Sache angehen würde.
Lucie versuchte, einen Zusammenhang zwischen diesem Mord und den Toten von Gravenchon herzustellen. Dort hatte man den Opfern auch die Augen entnommen. Laut Sharko war der Täter ein Arzt oder zumindest jemand aus dem medizinischen Umfeld. Jetzt kam die Kompetenz als » Cineast« hinzu. Selbst wenn es an präzisen Elementen fehlte, wurde das Profil klarer. Warum hatte der Täter die Augen mitgenommen? Welche Bedeutung hatten sie für ihn? Was machte er damit? Behielt er sie als Trophäen? Lucie erinnerte sich auch an die zentrale Rolle der Netzhaut und der Iris in dem Film, das Skalpell auf der Hornhaut … und sie erinnerte sich an Claude Poignets Bemerkung: » Das Auge an sich ist nur wie ein Schwamm, der das Bild aufnimmt.«
Ein Schwamm…
Plötzlich zog Lucie aufgeregt ihr Handy aus der Tasche, suchte nach der Nummer des Rechtsmediziners und wählte sie.
» Hallo, Doktor? Lucie Henebelle am Apparat. Störe ich Sie?«
» Warten Sie, ich frage eben mal den großen verwesten Schwarzen auf meinem Tisch… nein, in Ordnung. Was ist Ihre Frage, Lucie?«
Sie lächelte. Der Gerichtsmediziner kannte sie in- und auswendig. Man musste dazu
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