Öffnet den Himmel
mehr als andere auch haben. Außerdem besitzt er schwache telepathische Kräfte. So wie er da sitzt, verlangt er von uns, daß wir ihn töten.“
„Ich würde eine Sezierung vorschlagen“, sagte die Frau. „Unser Subjekt hat nichts dagegen einzuwenden.“
Kirby fröstelte. Diese beiden kühl sachlichen Esper hatten dem verkrüppelten Wesen ins Gehirn geschaut, und das allein hätte doch schon bewirken müssen, daß ihre Gefühle Sturm liefen. Wenn man selbst auf empathische Weise feststellen konnte, was es hieß, ein dreizehnjähriger Gnom zu sein, mit diesen milchigen Augen die Welt sehen zu müssen …! Aber für diese beiden war es nur ihr Job. Sie waren nicht zum ersten Mal in das Gehirn eines Monstrums eingedrungen.
Vorst winkte mit der Hand. „Nein, er soll weiter untersucht werden. Möglicherweise kann er sich noch als nützlich für uns erweisen. Wenn er wirklich pyrogen veranlagt ist, sollen die üblichen Schutzvorkehrungen beachtet werden.“
Der Gründer drehte seinen Rollstuhl und machte sich daran, den Raum zu verlassen. Im selben Moment stürzte ein Altardiener herein, um eine Nachricht zu überbringen. Er erstarrte beim unerwarteten Anblick Vorsts und stand kurz davor, mit dem Rollstuhl des Gründers zu kollidieren. Vorst lächelte väterlich und umfuhr den jungen Mann, der vor Schuldgefühlen unfähig war, sich zu rühren.
Der Altardiener sagte schließlich: „Eine Nachricht für sie, Koordinator Kirby.“
Kirby nahm sie entgegen und stieß den Daumen auf das Siegel. Der Umschlag öffnete sich.
Die Nachricht stammte von Mondschein.
„LAZARUS IST BEREIT, MIT VORST ZU SPRECHEN“, stand darin zu lesen.
3
Vorst sagte: „Ich war einmal geisteskrank, müssen Sie wissen. Ungefähr zehn Jahre lang. Später entdeckte ich dann das eigentliche Unheil. Ich litt nämlich an einer zu geringen Verankerung im Zeitstrom.“
Die bleiche Esperin sah ihn mit großen Augen an. Die beiden waren allein in den Privatgemächern des Gründers. Sie war eine magere Frau mit schmächtigen Gliedmaßen, und sie war dreißig Jahre alt. Schwarze Haare hingen wie bemaltes Stroh in Strähnen zu beiden Seiten des Gesichts herunter. Sie hieß Delphine. In all den Monaten, in denen sie Vorst versorgte, hatte sie sich doch nie an seine Offenheit gewöhnen können. Ihr blieb auch kaum eine Gelegenheit dazu; sobald sie sein Büro nach einem Treffen verließ, löschten andere Esper in ihr alle Erinnerungen an den Besuch aus.
Sie sagte: „Soll ich mich bereitmachen?“
„Jetzt noch nicht, Delphine. Haben Sie sich selbst eigentlich schon einmal für geisteskrank gehalten? In den Augenblicken, wo es besonders hart kommt, in den Augenblicken, wo sie am Zeitstrang entlangsuchen und nicht mehr daran glauben, jemals in die Jetztzeit zurückzukehren?“
„Manchmal kann man es schon mit der Angst zu tun bekommen.“
„Aber Sie kehren zurück; und das ist das eigentlich Wunderbare daran. Wissen Sie überhaupt, wie viele Zeitschwimmer schon ausgebrannt sind?“ fragte Vorst. „Hunderte. Ich selbst wäre ausgebrannt, wenn ich nicht ein so schwacher Zeitschwimmer wäre. Aber damals trieb ich immer wieder auf dem Zeitstrom fort und schwamm an ihm entlang. Ich sah die ganze Bruderschaft, wie sie sich vor mir ausbreitete. Man mag es eine Vision nennen oder einen Traum – fest steht, Delphine, ich habe es gesehen, auch wenn die Ränder verwischten.“
„Genauso wie Sie es in Ihrem Buch beschrieben haben?“
„Mehr oder weniger“, sagte der Gründer. „Die Jahre von 2055 bis 2063 – da war es am schlimmsten mit diesen Visionen. Alles begann, als ich fünfunddreißig Jahre alt war. Damals war ich ein gewöhnlicher Techniker, ein Niemand; und dann bekam ich das, was man eine göttliche Eingebung nennen könnte. Nun, ganz nüchtern gesehen war es nur ein kurzer Blick in meine eigene Zukunft. Ich dachte aber, ich sei dabei, den Verstand zu verlieren. Erst später begriff ich.“
Die Esperin schwieg. Vorst schloß die Augen. Die Erinnerungen glühten in ihm nach: Nach Jahren eines inneren Chaos und Kollapses war er geläutert aus der Feuerprobe des Wahnsinns gestiegen und sich seiner Aufgabe bewußt geworden. Er sah, wie er die Welt umkrempeln konnte. Mehr noch, er sah, wie er die Welt umgekrempelt hatte. Danach bestand das Problem eigentlich nur noch darin, einen Anfang zu finden, die ersten Kirchen zu gründen, sich die Riten seines Kults auszudenken und sich mit jenen fähigen Wissenschaftlern zu umgeben, die
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