Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Öl!

Titel: Öl! Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Upton Sinclair
Vom Netzwerk:
dass es da noch Mrs Roscoe gab, die mit ihren vier Söhnen in dem Haus in der Stadt wohnte. Mrs Roscoe verkehrte in der besseren Gesellschaft und so und hatte versucht, Verne auch hineinzuziehen, aber der war für dieses Leben nicht geschaffen. Manchmal fuhr Mrs Roscoe hinaus zum «Kloster», wie das Landhaus hieß, aber natürlich nicht, wenn Miss Ames zugegen war; Dad meinte, sie hätten bestimmt ein spezielles Verfahren, um zu vermeiden, dass sie sich über den Weg liefen. Miss Ames besaß ein eigenes Haus in der Nähe der Studios, und das « Kloster » war eine Art Sehenswürdigkeit, in die sie übers Wochenende Freunde einluden.
    Man fuhr hinauf, hinter eine Gebirgskette, die parallel zur Küste verlief – noch so eine wunderbare Straße, ein geheimnisvolles, von der Hand eines Riesen ausgerolltes Betonband. Der Motor schnurrte leise, man sauste vor dem Wind her, lang gezogene Steigungen, lang gezogene Talfahrten, und schlängelte sich durch ein Labyrinth von Höhenzügen; manchmal ging es steil bergauf, und man hatte einen weiten Blick auf verstreut daliegende Berge, breite Täler und Küstenstreifen mit Fischerhütten, Booten und Netzen, die in der Sonne trockneten, dann wieder Hügel und steile Hänge – stundenlang flog man dahin, so schnell man wollte, denn jetzt war man einundzwanzig, und Dad erwartete nicht mehr, dass man sich an die Geschwindigkeitsbegrenzungen hielt.
    Schließlich kam eine Abzweigung Richtung Meer, und nachdem man ungefähr zehn Meilen ständig bergauf gefahren war, gelangte man zu einem hohen Stahlzaun mit einem Stahltor und einem Schild: «Privat! Bitte wenden!» Die Straße war an dieser Stelle extra verbreitert worden, damit man diesem Schild Folge leisten konnte. Das Tor stand offen, deshalb brauste Bunny weiter, erklomm noch einen Hügel, fuhr über die Kuppe und dann, o Wunder! – ein riesiges, gelbgrünes Becken, zwei oder drei Meilen im Durchmesser, zur Meerseite hin offen, und in der Mitte dieses Beckens die grauen Steintürme des «Klosters»! Ringsum nur Berge, und so weit das Auge reichte, alles im Besitz des Ölmagnaten, das Land und die Landschaft; wenn das gemeine Volk sein Refugium hätte sehen wollen, so hätte es ein Ruderboot nehmen oder schwimmen müssen.
    Man ließ den Wagen die Serpentinen hinunterrollen, zwischen umgestürzten Felsbrocken und Baumgruppen aus hundertjährigen Lebenseichen hindurch, und kam zu einer Gabelung; in der einen Richtung hieß es «Anlieferung», in der anderen «Gäste». Wer das Glück hatte, Gast zu sein, den führte der Weg zu einer überdachten Wagenauffahrt, groß genug für ein halbes Dutzend Doppeldeckerbusse. Ein Diener erschien und rief einen Chauffeur herbei, der das Auto in die Garage brachte. Man wurde in ein Wohnzimmer geleitet – nun ja, es war eher, als beträte man eine Kathedrale, der Blick wanderte nach oben ins Gewölbe, und man stolperte über das Fell eines Auerochsen oder Gnus oder was zum Teufel das war. Welcher infame, sarkastische Architekt hatte sich hier, mitten in einem neuen heidnischen Imperium, diesen Spaß aus gotischen Fialen, Kirchturmspitzen, Zinnen und Maschikulis 72 erlaubt und ihm einen so erinnerungsträchtigen Namen gegeben? Klar, das Kloster musste einen vorreformatorischen Stil haben, um zum Leben des Mönchs zu passen, der hier wohnte!
    Wie Bunny feststellte, verbarg sich im Querschiff der Kathedrale ein Lift, und aus diesem trat plötzlich ein winziges Traumbild in zitronenfarbenem Chiffon hervor, mit zitronenfarbenen Strümpfen und Schuhen und einem großen, zitronenfarbenen Hut, wie ihn Schäferinnen zu tragen pflegen, wenn sie sich porträtieren lassen. Das alles war so perfekt und prachtvoll wie auf einem Kostümball; und es bedurfte keiner Vorstellungsrunde, denn Bunny zählte zu den neunzig Prozent aller Männer der zivilisierten Welt und den vielleicht siebzig Prozent in Madagaskar, Paraguay, Nowaja Semlja, Tibet und Neuguinea, die die Anzahl der Wimpern an Annabelles Lidern nennen, eine Skizze ihrer Grübchen zeichnen oder den exakten Verlauf einer Träne über ihre Wange hätten beschreiben können. Er hatte sie als «ungebärdige» Tochter eines Stahlkönigs aus Pittsburgh gesehen, gebührlich gezüchtigt und zum Glauben an Mutter, Heim und Himmel bekehrt; als Geliebte eines französischen Königs, zur Sühne für ihre exquisiten Sünden einen exquisiten Tod erleidend; als die misshandelte, entflohene Erbin eines georgianischen Herrenhauses; und als barfüßiges «Bergmädchen»

Weitere Kostenlose Bücher