Öland
Astrids Haus hielt. Da war es zu spät für eine Flucht.
»Hallo!«, rief Lena forsch, als Astrid ihr die Tür öffnete. Sie
umarmte Julia so stürmisch, dass ihr gebrochenes Schlüsselbein schmerzte. »Wie geht es dir?« Lena deutete auf die
Krücken.
»Es geht mir schon viel besser«, antwortete Julia.
»Papa hat angerufen und mir erzählt, was passiert ist«,plapperte Lena weiter. »Schrecklich, aber es hätte ja noch
schlimmer kommen können. Du musst versuchen, das so zu
sehen: Es hätte schlimmer kommen können.« Und das war
genau genommen schon alles, was ihre Schwester zu Julias
Verletzungen zu sagen hatte. Sie fügte noch hinzu: »Wie nett
von Astrid, dass du bei ihr wohnen konntest. Ist doch nett,
oder?«
»Astrid ist ein Engel«, sagte Julia.
Das stimmte. Astrid war ein Engel, der im menschenleeren
Stenvik lebte und glücklich und zufrieden war. Allerdings
hatte sie Julia gegenüber auch zugegeben, dass sie sich
manchmal einsam fühlte. Sie war Witwe, und ihre Tochter
arbeitete als Ärztin in Saudi-Arabien und kam nur an Weihnachten und Mittsommer nach Hause.
Richard nickte Julia nur ungeduldig zu, behielt seine hellbraune Windjacke an und schaute schon nach wenigen Minuten ständig auf seine Rolex. Er will nur so schnell wie möglich den Wagen nach Hause bringen, dachte Julia, damit
seine Tochter ihn endlich benutzen kann.
Astrid servierte ein zweites Frühstück mit Kaffee und Plätzchen, und Lena kommentierte entzückt, wie ruhig und beschaulich es jetzt im Oktober in Stenvik sei, wenn alle Touristen abgereist waren. Richard saß mit geradem Rücken neben
seiner Frau und sagte kein Wort. Julia sah aus dem Fenster
und dachte an Vera Kants Haus hinter den großen Bäumen.
»Na, wir sollten mal langsam an den Aufbruch denken«,
sagte Lena nach dem Kaffee. »Wir haben noch einen langen
Heimweg vor uns.«
Sie half mit, die Tassen und Teller abzuräumen, und Richard ging mit Astrid hinters Haus, um ihr beim Befestigen
einer Abflussrinne zu helfen, die abzufallen drohte.
Julia konnte nichts machen, nur dasitzen und zusehen.
»Schön, dass ihr gekommen seid«, sagte sie höflich.
Lena nickte.
»Wir haben sofort entschieden, dass wir dir helfen, nach
Hause zu kommen«, sagte sie. »Du kannst so ja nicht fahren.«
»Vielen Dank«, erwiderte Julia, »aber das ist nicht nötig. Ich
kann hierbleiben.«
Lena hörte ihr gar nicht zu.
»Wenn ich mit dir im Ford fahre, kann Richard den Volvo
nehmen«, fuhr sie fort und spülte die Kaffeekanne aus. »Wir
halten meistens in Rydaholm und essen zu Mittag, das Gasthaus ist sehr gemütlich.«
»Ich kann ohne Jens nicht nach Hause fahren, ich muss ihn
erst wiederfinden«, sagte Julia mit energischer Stimme.
Lena drehte sich zu ihr um.
»Was hast du gesagt?«, fragte Lena ungläubig. »Es gibt doch
keine …«
»Ich weiß, dass Jens tot ist, Lena«, sagte Julia und hielt dem
Blick ihrer Schwester stand. »Er ist tot. Das habe ich endlich
eingesehen, aber darum geht es nicht mehr. Ich will ihn finden, wo immer er ist.«
»Ja, ja, schon gut. Papa findet es ja auch toll, dass du hier
bist«, lenkte Lena sofort ein. »Dann ist ja alles gut.«
Auf jeden Fall besser, als in Göteborg vor dem Fernseher zu
hocken, Wein zu trinken und Schlaftabletten zu schlucken,
dachte Julia. Für einen Moment spürte sie die vielen vergeudeten Jahre wie einen schweren Druck auf der Brust – die
Jahre, in denen die Sehnsucht nach ihrem Sohn die schönen Erinnerungen an ihn überlagerte, die sie hätten trösten
können.
Jetzt hatte sie Frieden gefunden, ein bisschen Frieden.
Am Ende ging es doch nur darum, dass man einen ruhigen, friedlichen Ort hatte, an dem man sich zu Hause fühlte,
und mit Menschen zusammen war, die man mochte. So wie
hier in Stenvik, bei Astrid. Und Gerlof. Und Lennart. Julia
mochte sie alle sehr gern.
»Ja, es ist alles gut«, sagte Julia. »Wir sehen uns in Göteborg.«Eine halbe Stunde später setzte sich Richard in den großen,
dunkelgrünen Volvo vor Astrids Haus, und Lena stieg in den
Ford.
Sie lehnte sich aus dem Fenster und winkte Julia zu. Dann
fuhren sie los.
Wenige Minuten später klingelte das Telefon im Flur.
»Ich mache das schon«, sagte Astrid und rannte los. »Es ist
die Polizei, Julia, für dich … Es ist Lennart.«
Auf glattem Fliesenboden konnte sich Julia mit einer Krücke relativ schnell und einfach fortbewegen.
Sie nahm den
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