Öland
hatte bis eben zwei gute Freunde gehabt, John
und Ernst. Jetzt hatte er nur noch einen.
Er griff nach seinem Stock und stand auf. Jetzt spürte er
nichts als Entschlossenheit, auch wenn das Rheuma und die
Trauer seine Bewegungsfreiheit stärker einschränkten als je
zuvor. Er trat auf den Gang, hörte Lachen aus der Küche und
ging darauf zu.
Boel stand mit einem jungen Mädchen zusammen, das offensichtlich in den Gebrauch der Spülmaschine eingewiesen
wurde. Sie bemerkten Gerlof, und Boel lächelte ihn an, sah
dann jedoch seinen Gesichtsausdruck und wurde ernst.
»Boel, ich muss nach Stenvik. Es gab einen Unfall. Mein bester Freund ist tot«, sagte Gerlof mit fester Stimme. »Jemand
muss mich dorthin fahren.«
Er hielt ihrem Blick stand, und schließlich nickte Boel. Es
passte ihr nicht, die alltägliche Routine zu ändern, aber dieses eine Mal diskutierte sie nicht.
»Warten Sie zwei Minuten, dann fahre ich Sie«, sagte sie nur.
Als die nördliche Zufahrtstraße nach Stenvik auftauchte,
die direkt zum Steinbruch führte, hob Gerlof auf dem Beifahrersitz den Arm und zeigte geradeaus.
»Wir nehmen den südlichen Weg«, sagte er.
»Warum das denn?«, fragte Boel. »Sie wollten doch zum …«
»Ich habe zwei Freunde in Stenvik«, antwortete Gerlof. »Der
eine war Ernst. Und der Zweite muss erfahren, was geschehen ist.«
Es war kein großer Umweg, die südliche Zufahrtsstraße
tauchte kurz dahinter auf. Das Schild mit der Aufschrift
CAMPINGPLATZ war überklebt. Das hatte John Hagman veranlasst, obgleich das Risiko sehr gering war, dass jemand im
Oktober mit Zelt oder Wohnwagen vor der Tür stand.
Auf der linken Seite tauchte der Kiosk auf, dahinter die
Minigolfanlage, wo ein Mann mittleren Alters in einem grünen Trainingsanzug beschäftigt war, mit müden Bewegungen die Bahnen zu fegen. Er warf ihrem Wagen einen schüchternen Blick hinterher, als sie vorbeifuhren. Das war Anders
Hagman, Johns einziger Sohn. Er war Junggeselle und wortkarg, und Gerlof hatte ihn praktisch nie in etwas anderem
gesehen als diesem zerschlissenen Trainingsanzug – vielleicht hatte er mehrere davon.
»Hier ist es«, sagte Gerlof. »Das ist sein Haus.«
Er zeigte auf ein kleines, weißes Haus an der Straße zum
Campingplatz, ein eingeschossiges Gebäude mit zwei Fenstern, das eher wie ein Wachhäuschen aussah. Vor der Tür
stand ein verrosteter, grüner VW Passat, also war John zu
Hause.
Boel hielt an. Gerlof stieg aus dem Wagen. Fast zeitgleich
öffnete sich die Tür des Häuschens. Ein kleiner Mann in einem dunkelblauen Arbeitsoverall trat in Wollsocken auf die
Treppe hinaus, sein graues Haar war nach hinten gekämmt
und in einem kleinen Zopf zusammengebunden. Das war
John Hagman, der immer neugierig aus dem Haus kam, um
zu sehen, wer ihn besuchte.
John und Anders Hagman betrieben im Sommer gemeinsam den Campingplatz. Im Winter wohnte Anders die meiste
Zeit in Borgholm.
John lebte das ganze Jahr über in Stenvik und musste die
tägliche Pflege der Anlage alleine bewerkstelligen, wenn sein
Sohn nicht zu Besuch war. Das war harte Arbeit für einen
alten Mann – Gerlof hätte ihm gerne geholfen, wenn er selbst
nicht noch viel älter gewesen wäre.
Gerlof und John begrüßten sich mit einem Kopfnicken.
»Hallo«, sagte John. »Das ist aber ein unerwarteter Besuch.«
»Ja. Es hat einen Unfall gegeben«, sagte Gerlof.
»Wo denn?«
»Im Steinbruch.«
»Ernst?«, fragte John leise.
Gerlof nickte.
»Ist er verletzt?«
»Ja. Es sieht sehr schlecht aus«, sagte Gerlof. »Sehr schlecht.«
John kannte Gerlof seit fast fünfzig Jahren, sie hatten nach
ihren gemeinsamen Jahren auf See Kontakt gehalten. Er
schien in Gerlofs Gesichtsausdruck lesen zu können, wie
schlimm es um Ernst stand.
»Sind schon Leute da?«, fragte er.
»Mittlerweile müssten sie da sein. Meine Tochter Julia hat
sie gerufen. Sie ist vor Ort. Sie ist gestern aus Göteborg gekommen«, erzählte Gerlof.
»Aha.« John machte zwei Schritte ins Haus, und als er wieder herauskam, hatte er eine wattierte Jacke und einen
Schlüsselbund in der Hand. »Wir können meinen Wagen nehmen«, schlug er vor. »Ich gehe ihm nur eben sagen, dass wir
fahren.«
Gerlof nickte, das war besser so. Boel wollte bestimmt
schnell zurück, und er würde ungestörter mit John reden
können, wenn sie alleine waren.
John ging zu Anders, blieb vor ihm stehen, zeigte auf die
Golfbahnen und redete leise
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