Öland
Ölands, aber ich glaube, sie hat sich nie viel aus
Geld gemacht. Ihre Verwandten streiten sich, glaube ich,
noch immer um das Erbe, denn wie du siehst, steht das Haus
leer und verfällt langsam. Vielleicht traut sich auch niemand,
dort zu wohnen.«
»Vera Kant …«, wiederholte Julia. »Ich erinnere mich nicht
richtig an sie. Sie war nicht sonderlich beliebt, oder?«
»Nein, sie war zu verbittert und nachtragend«, sagte Gerlof.
»Wenn dein Großvater ihr Unrecht getan hatte, hasste sie
deine Mutter, dich und deinen Hund bis ans Ende ihres Lebens. Darum hatte sie so gut wie keine Freunde.«
»Und sie ist nie in die Stadt gefahren?«
»Nein, Vera war eine Einzelgängerin«, sagte Gerlof. »Sie saß
die meiste Zeit in ihrem Haus und sehnte sich nach ihrem
Sohn.«
»Was hat er denn getan?«, wiederholte Julia ihre Frage.
»Eine ganze Menge …«, begann Gerlof. »Als Junge wurde er
verdächtigt, seinen Bruder ertränkt zu haben. Nur Nils und
sein Bruder waren am Strand, als es passierte, und Nils hat
später behauptet, es sei ein Unfall gewesen … Die ganze Wahrheit werden wir wohl nie erfahren.«
»Wart ihr Freunde?«
»Nein, nein. Er war ein paar Jahre jünger als ich, und ich
bin ziemlich früh zur See gefahren. Darum habe ich ihn
kaum gekannt, als er noch ein kleiner Junge war.«
»Und als Erwachsenen?«
Gerlof wollte lächeln, aber wenn es um Nils Kant ging, gab
es keinen Grund zu lächeln.
»Definitiv nicht als Erwachsenen«, wehrte er ab. »Er hat das
Dorf früh verlassen.« Er hob die Hand und zeigte zu dem kleinen Bücherregal in einer Ecke des Raums. »Da drüben steht
ein Buch über Nils Kant. Zumindest handelt es zum Teil von
ihm. Es steht auf dem dritten Regalbrett von oben und hat
einen schmalen, gelben Buchrücken.«
Julia stand auf, suchte und zog schließlich ein Buch heraus.
Sie las den Titel laut.
» Öländische Verbrechen .«
Sie sah Gerlof fragend an.
»Ja, das ist es«, sagte Gerlof. »Ein Kollege von Bengt Nyberg
von der Ölands-Posten hat es vor ein paar Jahren geschrieben.
Lies es, dann weißt du das meiste.«
»Okay.« Sie sah auf die Uhr. »Aber heute Abend nicht mehr.«
»Nein. Wir sollten schlafen gehen«, sagte Gerlof.
»Ich würde gerne in meinem alten Zimmer schlafen«, sagte
Julia. »Wenn das in Ordnung ist.«
Es war in Ordnung. Gerlof nahm das Schlafzimmer daneben, das er so viele Jahre mit Ella geteilt hatte. Ihr altes
Doppelbett war zwar weg, aber die neuen Betten standen
am selben Platz. Während sich Gerlof im Badezimmer fertig
machte, bezog Julia ihm eines der beiden, denn das Bettenbeziehen war eine Turnübung, die er nicht schaffte.
Nachdem auch Julia sich fertig gemacht und in ihr Zimmer
gegangen war, zog sich Gerlof aus und legte sich in langer
Unterhose und Unterhemd ins Bett. Die Matratze war wesentlich härter als jene, auf der er sonst schlief.
Er lag eine Weile ruhig da, dachte nach und stellte fest,
dass er sich hier nicht mehr so wohlfühlte wie in seinem
Zimmer in Marnäs. Es war damals ein großer Schritt für ihn
gewesen zu erkennen, dass er zu alt war, um sich alleine in
Stenvik zu versorgen. Aber wahrscheinlich war es der richtige Entschluss gewesen, zumindest musste man nicht abwaschen und sich den Kaffee selbst kochen.
Gerlof lauschte dem Wind in den Bäumen, schlief dann ein
und träumte, dass er auf einem harten Bett aus Stein im
Steinbruch lag.
Der Himmel über ihm war tiefblau, der Wind blies kräftig,
trotzdem hing ein dünner Nebel rätselhafterweise und sehr
hartnäckig über dem Boden.
Ernst Adolfsson stand oben an der Kante und sah mit
schwarzen Augenhöhlen in den Steinbruch hinunter.
Gerlof öffnete den Mund, um seinen Freund zu fragen, ob
er den Stein hinuntergestoßen hatte und was er damit sagen
wollte – aber ein Flüstern brachte Ernst dazu, sich umzudrehen.
» Ich habe sie alle getötet .«
Nils Kant hatte das geflüstert.
» Gerlof … Ich soll dich von deinem Enkelkind grüßen .«
Nils Kant kam mit rauchender Schrotflinte von der Alvar
zum Steinbruch gewandert, stand direkt hinter Ernsts Hausund würde jeden Moment um die Ecke biegen. Gerlof hob
den Kopf und hielt den Atem an. Gleich würde er wissen, wie
Nils Kant als Erwachsener, als alter Mann aussah. Hatte er
noch Haare auf dem Kopf? Waren sie grau? Trug er einen Bart?
Aber es war Ernst, der sich umdrehte und stattdessen hinter dem Haus verschwand; er glitt
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