Öland
gerne wissen … Hat Lambert jemals davon erzählt, was er in dieser Nacht geträumt hat?«
»Hier sind fünf Eier«, sagte eine Stimme aus dem Dunkeln.
»Ich habe nicht mehr gefunden.«
Julia begriff, dass er keine weiteren Fragen beantworten
wollte. Sie gab einen langen, tiefen Seufzer von sich. Ihre Augen hatten sich an die Dunkelheit gewöhnt, und sie sah Sven-Olaf regungslos in der Mitte des Hühnerstalls stehen. Er
starrte sie ängstlich an und hatte die fünf Eier an seine Brust
gedrückt.
»Lambert muss doch was erzählt haben, Sven-Olaf«, drängte
sie.»Er muss Ihnen doch irgendwann von seinem Traum in
dieser Nacht erzählt haben.« Sven-Olaf hustete.
»Er hat nur ein einziges Mal von dem Jungen gesprochen.«
Julia hielt den Atem an.
»Er hatte einen Artikel in der Ölands-Posten gelesen«, sagte
Sven-Olaf. »Das war fünf Jahre, nachdem es passiert war. Aber
es stand nichts Neues in der Zeitung.«
»Das hat es nie getan«, unterbrach Julia ihn müde. »Es gab
nie Neuigkeiten, aber sie haben trotzdem immer neue Artikel geschrieben.«
»Wir saßen am Küchentisch, und ich habe die Zeitung zuerst gelesen«, fuhr Sven-Olaf fort. »Danach war Lambert dran.
Und als ich gesehen habe, dass er den Artikel über den Jungen liest, habe ich ihn gefragt, was er glaubt. Daraufhin hat
Lambert die Zeitung sinken lassen und gesagt, dass der Junge
tot sei.«
Julia blinzelte. Sie nickte.
»Im Sund?«, fragte sie leise.
»Nein. Lambert hat gesagt, dass es in der Alvar passiert ist.
Er ist in der Alvar umgebracht worden.«
»Umgebracht?«, wiederholte Julia und spürte einen eiskalten Schauer ihren Rücken herunterlaufen.
»Es war ein Mann, sagte Lambert. Es ist an dem Tag geschehen, als der Junge verschwand. Ein Mann, der voller Hass war,
hat ihn in der Alvar umgebracht. Danach hat er den Jungen
in ein Grab an einer Steinmauer gelegt.«
Es wurde wieder still. Ein Huhn schlug nervös mit den
Flügeln.
»Das war alles, was Lambert erzählt hat«, fügte Sven-Olaf
hinzu. »Kein Wort mehr über den Jungen oder den Mann.«
Und keine Namen, dachte Julia. Alle in Lamberts Träumen
waren namenlos.
Sven-Olaf kam mit den fünf Eiern im Arm aus dem Gehege
und schielte zu Julia hinüber, als hätte er Angst vor ihr.
Julia seufzte.
»Dann weiß ich das jetzt«, sagte sie. »Danke.«
»Brauchen Sie einen Eierkarton?«
Julia wusste es.
Sie konnte sich zwar einreden, dass Lambert sich geirrt
oder sein Bruder sich die Geschichte ausgedacht hatte, aber
das war zwecklos. Sie wusste es.
Auf dem Rückweg von Långvik hielt sie auf der Küstenstraße an, blickte auf den leeren Strand hinab und beobachtete, wie das Wasser zu Schaum wurde, wenn sich die Wellen
brachen. Dann weinte sie mehr als zehn Minuten.
Sie wusste es, und dieses Wissen war furchtbar, als wäre
Jens erst seit ein paar Tagen verschwunden, als wären alle
Wunden noch frisch. Erst jetzt konnte sie ihn als Toten in ihr
Herz aufnehmen, aber es musste sehr langsam geschehen,
damit die Trauer sie nicht ertränkte.
Jens war tot.
Sie wusste es. Aber sie wollte ihren Sohn trotzdem noch
einmal sehen. Und falls das nicht gehen sollte, wollte sie wenigstens wissen, was passiert war. Darum war sie gekommen.
Der Wind trocknete ihre Tränen. Nach einer Weile stieg
Julia wieder aufs Fahrrad und fuhr weiter.
Beim Steinbruch traf sie Astrid, die mit ihrem Hund einen
Spaziergang machte und Julia zum Abendessen einlud –
ohne mit einem einzigen Wort oder Blick ihre roten, verheulten Augen zu kommentieren.
Astrid servierte Schweinekotelett, Kartoffeln und Rotwein. Julia aß nur ein bisschen, trank dafür jedoch viel
mehr, als sie sollte. Doch nach drei Gläsern war der Gedanke,
dass Jens schon so lange tot war, nicht mehr ganz so unerträglich.
»Sie waren heute in Långvik?«, fragte Astrid.
Julias Grübeln wurde unterbrochen, sie nickte.
»Ja. Und gestern war ich in Marnäs«, sagte sie schnell, um
den Gedanken an Långvik und Lamberts Träume zu entkommen.
»Ist da oben was passiert?«, fragte Astrid und goss Julia den
letzten Schluck Rotwein ein.
»Nicht viel«, wich Julia aus. »Ich war auf dem Friedhof
am Grab von Nils Kant. Gerlof fand, dass ich es mir ansehen
sollte.«
»Das Grab, ja«, sagte Astrid gedankenverloren und hob
ihr Glas.
»Ich frage mich nur …«, sagte Julia. »Vielleicht können Sie
mir das auch nicht beantworten, aber die deutschen Soldaten, die Nils Kant in der
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