Öland
Marnäs folgt. Das zweistöckige Bahnhofsgebäude aus Holz
steht allein hinter der Ortsausfahrt, es ist ein kombinierter
Post- und Eisenbahnverkehrsbahnhof.
Das Gleis ist leer. Sein Zug ist noch nicht eingetroffen.
Nils ist in seinem Leben schon dreimal nach Borgholm und
zurück gefahren und weiß deshalb, wie sich ein Reisender
verhält. Er betritt das Bahnhofsgebäude, in dem es ganz still
ist, geht zum Schalter und löst eine einfache Fahrkarte in
die Stadt.
Die mürrische Frau hinter dem Eisengitter sieht ihn durch
ihre Brillengläser an und wendet den Blick schnell wieder ab,
um ihm die Fahrkarte auszustellen. Ihre Stahlfeder kratzt
laut über das Papier.
Nils wartet nervös, er fühlt sich beobachtet. Etwa ein halbes Dutzend Menschen, die meisten Männer in ordentlich
geknöpften Anzügen, sitzt in der Wartehalle auf Holzbänken. Sie warten allein oder in Gruppen, viele von ihnen tragen schwarze Ledertaschen. Nils ist der Einzige mit Rucksack
und Koffer.
»Bitte schön. Letzter Wagen, Nummer drei.«
Nils bekommt die Fahrkarte ausgehändigt, bezahlt und
geht auf den Bahnsteig. Nach wenigen Minuten rollt die Lokomotive langsam in den Bahnhof, zieht drei rot lackierte Waggons hinter sich her.
Eine enorme Kraft steckt in der schwarzen, qualmenden
Dampflokomotive, als sie mit quietschenden Bremsen langsamer wird und vor dem Bahnhofsgebäude zum Stehen
kommt.
Nils steigt in den letzten Wagen. Der Stationsvorsteher ruft
hinterihm etwas, und die Türen zum Bahnhof öffnen sich,
und die anderen Reisenden kommen heraus.
Nils dreht sich auf dem Treppenabsatz um und starrt sie
stumm an, woraufhin sie sich entscheiden, in den anderen
Waggons einen Platz zu suchen.
Der Wagen ist dunkel und menschenleer. Nils legt seinen
Koffer auf die Gepäckablage und setzt sich ans Fenster, mit
Aussicht über die Alvar und dem Rucksack an seiner Seite.
Der Zug setzt sich mit einem Ruck schwerfällig in Bewegung.
Nils schließt die Augen und atmet erleichtert auf.
Dann hält der Zug mit einem Zischen wieder an.
Nils öffnet die Augen, wartet. Er ist noch immer allein in
seinem Wagen.
Eine Minute vergeht, eine zweite. Stimmt etwas nicht?
Schließlich nimmt der Zug seine Fahrt wieder auf. Er wird
immer schneller, und Nils sieht das Bahnhofsgebäude vorbeigleiten und aus seinem Blickfeld verschwinden. Kühle Luft
zieht durch die Ritzen im Fensterrahmen wie eine Brise am
Strand von Stenvik.
Nils legt die Hand auf den Rucksack, öffnet ihn und lehnt
sich entspannt zurück. Der Zug wird immer schneller. Die
Lokomotive pfeift.
Plötzlich wird die Tür zu seinem Waggon geöffnet.
Nils dreht sich um.
Eingroß gewachsenerManninschwarzerUniformmitglänzenden Knöpfen und Mütze kommt herein. Er sieht Nils an.
»Nils Kant aus Stenvik«, sagt der Mann mit ernstem Gesichtsausdruck.
Das ist keine Frage, aber Nils nickt automatisch.
Er sitzt wie angenagelt auf seinem Platz und spürt, wie der
Zug über die Alvar rast. Die grünbraune Landschaft vor dem
Fenster, blauer Himmel. Nils will den Zug anhalten und abspringen, er will zurück in die Alvar. Aber der Zug rattert,
und der Wind heult.
»Gut.«
Der Mann lässt sich schwer auf den Platz gegenüber von
Nils fallen und sitzt so nahe bei ihm, dass sich ihre Knie fast
berühren. Er zieht seine Jacke zurecht, die trotz der Hitze
akkurat zugeknöpft ist. Seine Stirn unter dem Schirm der
Uniformmütze glänzt schweißnass. Nils kennt ihn. Es ist
Kommissar Henriksson aus Marnäs.
»Nils«, sagt Henriksson, als würden sich die beiden schon
lange kennen, »hast du vor, nach Borgholm zu fahren?«
Nils nickt langsam.
»Willst du dort jemanden besuchen?«, fragt Henriksson
weiter.
Nils schüttelt den Kopf.
»Was hast du dann für Pläne?«
Nils gibt keine Antwort.
Der Kommissar sieht aus dem Fenster.
»Wie dem auch sei, wir können ja ein Stück des Wegs zusammen reisen«, sagt er, »und uns ein wenig unterhalten.«
Nils bleibt weiter stumm.
Der Kommissar fährt fort:
»Als man mich angerufen und mir erzählt hat, dass du diesen Zug nimmst, habe ich darum gebeten, noch einen Moment mit der Abfahrt zu warten, damit ich mitfahren kann.«
Er sieht Nils in die Augen. »Ich möchte gerne mit dir reden, verstehst du, über deine langen Spaziergänge durch die
Alvar …«
Der Zug verliert an Fahrt, steuert eine Haltestelle zwischen
Marnäs und Borgholm an. Eine kleine, von Apfelbäumen umgebene Holzhütte
Weitere Kostenlose Bücher