Öland
sagte Julia. »Sehr klug.«
»Aber niemand weiß, woher er sein Startkapital hatte«,
fuhr Gerlof fort. »Soweit ich weiß, hatte er auch nicht mehr
Geld als jeder andere Küstenfahrer hier.«
Er tippte auf das Buch.« Malmfrakt hat letztes Frühjahr dieses Jubiläumsbuch herausgebracht«, sagte er. »Dreh es mal
um, dann zeige ich dir was.«
Auf der Rückseite stand ein kurzer Text, der erläuterte,
dass es sich um ein Buch zum vierzigjährigen Jubiläum der
erfolgreichsten Reederei Ölands handelte. Unter dem Text
prangte das Logo der Firma, das aus dem Wort MALMFRAKT
sowie den Silhouetten von drei Möwen, die über den Buchstaben schwebten, bestand.
»Sieh dir mal die Möwen an«, sagte Gerlof.
»Ja«, sagte Julia. »Drei gezeichnete Möwen. Na und?«
»Vergleich sie mit dem Umschlag«, forderte Gerlof sie auf
und reichte ihr den braunen Umschlag. Er war mit zittriger
Handschrift an ihn adressiert worden: Kapitän Gerlof Davidsson, Stenvik. »Jemand hat die obere rechte Ecke abgerissen.
Aber von der rechten Möwe ist noch ein bisschen vom Flügel
zu erkennen … Kannst du es sehen?«
Julia sah genau hin und nickte langsam.
»Was ist das für ein Umschlag?«
»Der, in dem mir die Sandale geschickt worden ist«, erwiderte Gerlof.
Julia drehte ihm abrupt den Kopf zu.
»Du hast ihn doch weggeworfen? Das hast du zumindest
Henniksson erzählt!«
»Eine Notlüge. Ich fand, es genügte, dass er die Sandale bekommt. Aber das Wichtigste ist doch, dass der Umschlag von
Malmfrakt stammt. Martin Malm persönlich hat mir Jens’Sandale geschickt. Da bin ich mir sicher. Und ich glaube
auch, dass er mich angerufen hat.«
»Dich angerufen?«, wiederholte Julia. »Das hast du mir gar
nicht erzählt?«
»Er hat mich vielleicht angerufen.« Gerlof betrachtete die
großen Häuser. »Da gibt es nicht viel zu erzählen, nur dass
ich ein paar Mal abends angerufen wurde. Das ging los, nachdem ich die Sandale bekommen hatte. Aber der Anrufer hat
kein einziges Wort gesagt.«
Julia ließ den Umschlag auf ihren Schoß sinken und sah
ihn an.
»Werden wir ihn jetzt treffen?«
»Ich hoffe es.« Gerlof zeigte auf das große Holzhaus. »Er
wohnt hier.«
Er öffnete die Autotür und stieg aus. Julia saß erst regungslos hinterm Steuer, folgte ihm dann jedoch.
»Bist du sicher, dass er zu Hause ist?«
»Martin Malm ist immer zu Hause«, sagte Gerlof.
Kalter Wind wehte vom Sund heran, und Gerlof warf dem
Wasser einen kurzen Blick über die Schulter zu. Er musste
einmal mehr an Nils Kant denken – wie hatte er es vor mehr
als fünfzig Jahren geschafft, den Sund zu überqueren?
SMÅLAND, MAI 1945
N ils Kant kauert in einem kleinen Wäldchen am Festland
und blickt über den Sund auf Öland, das nur ein dünner
Streifen am Horizont ist. Sein Blick ist traurig, der Wind
rauscht einsam in den Baumwipfeln über ihm. Die Insel auf
der anderen Sundseite liegt im Licht der Morgensonne; die
Bäume sind leuchtend grün, die langen Strände schimmern
silbern.
Seine Insel. Nils wird zurückkehren. Jetzt noch nicht, aber
sobald er kann – sobald es sicher genug ist. Er weiß, dass er
Dinge getan hat, die ihm so schnell niemand vergeben wird,
Öland ist im Moment ein gefährlicher Ort für ihn. Und doch
ist nichts von all dem wirklich seine Schuld. Die Dinge sind
einfach geschehen, er hat sie nicht unter Kontrolle gehabt.
Der dicke Kommissar hat ihn im Zug gestellt und festzunehmen versucht, aber Nils ist schneller gewesen.
»Notwehr«, flüstert er seiner Heimatinsel zu. »Ich habe ihn
erschossen, aber es war Notwehr …«
Er verstummt und räuspert sich ausgiebig, um den Kloß
aus dem Hals zu bekommen.
Zwanzig Stunden ist es her, dass Nils vom Zug gesprungen
ist. Er hat sich der Verhaftung entziehen können, weil er sich
tief im Inneren der Alvar aufgehalten hat, wo er sich auskennt und zu Hause fühlt, und weil er sämtliche Wege und
Ortschaften vermieden hat.
Gut zehn Kilometer südlich von Borgholm, wo der Sund
am schmalsten ist, ist er durch den Wald zum Wasser gelaufen. Dort hat er eine halb verrottete und eingetrocknete Teertonne mit abgeschnittenem Deckel gefunden, in die er seine
Habseligkeiten gelegt hat. Nils hat im Wald gewartet, bis es
ganz dunkel gewesen ist, sich ausgezogen und die Tonne ins
kalte Wasser hinausgetrieben. Mit Armen und Oberkörper
die Tonne umklammernd, ist er über den Sund gestrampelt,
auf den schwarzen
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