Öland
Jackentasche, nahm die alte
Petroleumlampe und löschte das Licht. Sie war bereit.
Die Nacht war kalt und klar, und in den Bäumen rauschte
der Wind. Julia betrat die Straße und tauchte in die Dunkelheit ein, sah aber glitzernde Punkte am Horizont, die Lichter
am Festland.
Nach wenigen Metern blieb sie stehen, um auf Geräusche
zuhorchen: raschelndes Laub oder knackende Äste. Aber sie
hörte nichts – es rührte sich nichts.
Stenvik lag verwaist. Nur der Kies knirschte leise unter ihren Sohlen, während sie auf Vera Kants Haus zuging.
Am Gartentor blieb sie stehen. Es leuchtete weiß in der
Dunkelheit und war verschlossen. Julia streckte vorsichtig
die Hand aus und fühlte den kalten Eisengriff. Er war ganz
rau vom aufgeplatzten Rost.
Sie versuchte das Tor aufzudrücken. Es klemmte und
ächzte, gab aber nicht nach. Wahrscheinlich waren auch die
Scharniere eingerostet.
Julia stellte die Petroleumlampe ab, stellte sich dicht an
das Tor, hob das Gatter an und schob es gleichzeitig auf. Es
ließ sich ein paar Zentimeter bewegen, hing dann aber wieder fest. Doch der Spalt genügte, um hineinzugelangen.
Die Wirkung des Weines hielt ihre Angst vorerst etwas in
Schach.
Der Garten war von hohen Bäumen umgeben und voller
Schatten. Langsam begann sie, in der Dunkelheit Details
zu erkennen; ein geschwungener Weg aus Kalksteinplatten
führte durch den Garten wie eine stumme Einladung, ein
runder Brunnendeckel war von Laub bedeckt, und überall
wuchs wild wucherndes Gras. Hinter dem Brunnen stand ein
Holzschuppen, dessen Dach sich gefährlich neigte. Er sah aus
wie ein Zelt, das man schief und krumm aufgebaut hatte.
Julia machte einen vorsichtigen Schritt in den dunklen
Garten hinein. Und noch einen. Sie horchte und wagte einen
dritten.
Plötzlich klingelte ihr Handy; ihr Herz raste. Schnell fingerte sie das Telefon aus der Tasche, als könnte es jemanden
oder etwas im Dunkeln aufschrecken, und meldete sich.
»Hallo?«
»Hallo … Julia?«
Das war Lennarts Stimme.
»Hallo«, sagte sie und bemühte sich, ruhig zu klingen. »Wo
bist du?«
»Ich sitze immer noch im Ausschuss«, stöhnte er. »Und wir
sind noch nicht richtig vorwärtsgekommen, das dauert noch.
Aber ich glaube, ich fahre danach nach Hause.«
»Okay«, erwiderte sie und ging noch ein paar Schritte.
Jetzt konnte sie eine Ecke des Hauses sehen. »Prima, dann
weiß ich …«
»Morgen ist doch die Beerdigung, und ich muss vorher
noch einiges wegarbeiten«, entschuldigte sich Lennart. »Ich
glaube nicht, dass ich es schaffen werde, heute Abend noch
nach Stenvik zu kommen …«
»Nein, das kann ich verstehen«, unterbrach Julia ihn. »Wir
machen es ein anderes Mal.«
»Bist du unterwegs?«, fragte Lennart.
In seiner Stimme schwang kein Misstrauen mit, aber Julia
verkrampfte sich, als sie mit einer Lüge antwortete:
»Ich bin auf der Landborg. Ich wollte … Ich wollte einen
kleinen Spaziergang machen.«
»Ach so, na dann. Sehen wir uns morgen in der Kirche?«
»Ja, ich komme«, versprach Julia.
»Okay, dann gute Nacht.«
»Gute Nacht. Schlaf gut«, erwiderte Julia.
Lennarts Stimme verschwand mit einem Klicken. Julia war
zwar wieder allein, fühlte sich jetzt aber besser.
Ungefähr sechs Schritte vor ihr endete der steinerne Weg
an einer breiten Treppe, die zu einer weißen Holztür und einer verglasten Veranda hinaufführte. Das Haus erhob sich vor
Julia wie ein düsteres, hölzernes Schloss. Die schwarzen Fenster erinnerten sie an die Schlossruine von Borgholm.
Nicht einmal die Dunkelheit konnte den Zerfall des Hauses verbergen. Die Glasscheiben der Eingangstür waren zersprungen, die Farbe blätterte von den Fensterrahmen.
Julia stieg die letzten Treppenstufen hoch und horchte
erneut. An wen schlich sie sich eigentlich heran? Warum
hatte sie fast geflüstert, als sie mit Lennart telefonierte?
Es war lächerlich zu flüstern, wenn sie niemanden hörte,
aber sie konnte sich einfach nicht entspannen. Mit steifen Beinen und verkrampften Muskeln stieg sie die Treppe
hinauf.
Sie versuchte sich in Jens hineinzuversetzen – für den Fall,
dass er wirklich am Tag seines Verschwindens hier gewesen
war. Wenn er damals in den Garten geklettert war – hätte er
sich dann getraut, zur Veranda zu gehen und an die Tür zu
klopfen? Vielleicht.
Die Tür war bestimmt abgeschlossen, vermutete Julia und
wollte erst gar nicht versuchen, sie zu öffnen,
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