Öland
sie die Küche, währendsie aus dem Gedächtnis Lennarts Nummer eintippte.
Dann legte sie den Daumen auf die Anruftaste.
Falls etwas geschehen sollte …
Mit klopfendem Herzen stieg sie die Treppenstufen in den
ersten Stock hoch.
Das Holz knackte leise unter ihren Füßen. Julia legte ihre
rechte Hand auf das Geländer und setzte ihren Weg nach
oben fort. Wenn eine Stufe knarrte, setzte sie ihren Fuß an
eine andere Stelle.
Über ihr war es stockdunkel.
Sie gelangte in einen Korridor, der so schmal war wie der
Flur im Erdgeschoss. Es gab zwei Türen, jeweils am Ende des
Gangs, beide waren zu. Rechts oder links? Wenn sie noch
länger stehen blieb, würde sie sich gar nicht mehr bewegen
können, darum entschied sie sich für die linke Tür. Dort
schien es weniger dunkel zu sein. Beim Gehen wirbelte sie
Wollmäuse auf.
An den Wänden sah man helle Vierecke, die Abdrücke der
Bilder, die dort gehangen hatten.
Sie hatte das Ende des Korridors erreicht, schob die Tür auf
und hielt die Lampe vor sich hoch. Der Raum war klein und
unmöbliert. Aber er war nicht völlig leer. Julia trat ins Zimmer und zuckte zusammen, als sie eine dunkle Gestalt an der
Wand unter dem einzigen Fenster des Zimmers liegen sah.
Nein. Das war kein Mensch, sondern ein Schlafsack. An der Wand darüber klebte eine kleine Sammlung von
Zeitungsartikeln.
Julia sah, dass die Ausschnitte vergilbt und mit Nadeln an
die Wand geheftet waren.
DEUTSCHE SOLDATEN TOT AUFGEFUNDEN – MIT SCHROTFLINTE HINGERICHTET, stand auf einem der Schnipsel und
auf einem anderen:
POLIZISTENMÖRDER WIRD IM GANZEN LAND GEJAGT.
Und auf einem dritten, weniger vergilbten:
JUNGE AUS STENVIK SPURLOS VERSCHWUNDEN.
Von der kleinen Fotografie neben der Überschrift lachte sie
unbekümmert ein kleiner Junge an, und Julia wurde von jener Verzweiflung übermannt, die sie jedes Mal empfand,
wenn sie ein Bild ihres Sohns sah. Es gab noch mehr Ausschnitte, aber Julia blieb nicht länger. Sie verließ das Zimmer.
Sie zögerte. Im Licht der Petroleumlampe sah sie, dass die
Tür am anderen Ende des Korridors jetzt offen stand. Julia
spürte, dass dort jemand wartete. Eine alte Frau, die in einem
Stuhl am Fenster saß.
Es war ihr Schlafzimmer. Ein kaltes Schlafzimmer voller
Einsamkeit, Warten und Bitterkeit. Die Frau wartete darauf,
Gesellschaft zu bekommen, aber Julia war wie gelähmt.
Sie hörte ein Scharren aus dem Zimmer. Die Frau war aufgestanden. Jetzt näherte sie sich langsam schlurfend der Tür.
Julia musste weg, musste diesen Ort verlassen. Die Flamme
der Lampe flackerte, sie rannte los. Schnell zum Treppenabsatz und dann bloß nach unten.
Sie meinte Schritte hinter sich zu hören und spürte die
kalte Nähe der alten Frau, deren Hass wie ein harter Stoß in
den Rücken war. Julia stolperte blind in die Dunkelheit, verfehlte eine Stufe und verlor drei oder vier Meter über dem
Steinfußboden das Gleichgewicht.
Sie ruderte mit den Armen und ließ Telefon und Lampe
fallen.
Lampe und Handy zersplitterten auf dem Küchenboden.
Kleine Flammen loderten zwischen den Scherben auf, und
Julia wusste, dass auch sie gleich auf dem harten Boden aufschlagen würde.
Sie biss die Zähne zusammen, bereit, dem Schmerz zu begegnen.
19
A m Tag von Ernst Adolfssons Beerdigung wachte Gerlof im
nasskalten Morgengrauen auf und fühlte sich, als wäre er in
der Nacht aus großer Höhe zu Boden gestürzt. Schmerzen in
Armen und Knien lähmten ihn.
Das war der Stress, das Sjögren-Syndrom suchte ihn wieder
heim – es war zum Heulen. Er würde im Rollstuhl fahren
müssen, um überhaupt in die Nähe der Kirche zu kommen.
Das rheumatische Syndrom Sjögren war ein Weggefährte,
kein Freund – obwohl Gerlof oft versucht hatte, ihn willkommen zu heißen und zu entwaffnen, indem er sich entspannte
und ihn freundlich grüßte, sobald er ihn überfiel, aber das
Syndrom war unerbittlich, es stürzte sich auf ihn und bohrte
sich in seine Gelenke, zerrte an den Sehnen, trocknete seinen
Mund aus und bescherte ihm brennende Augen.
Gerlof ließ den Schmerz gewähren, bis dieser müde wurde.
Er lachte Sjögren ins Gesicht.
»Ich sitze wieder im Kinderwagen«, kommentierte er seinen Zustand nach dem Frühstück.
»Ach, Sie sind bald wieder auf den Beinen, Gerlof«, beruhigte Marie ihn.
Sie war die Schwester, die an diesem Tag für ihn zuständig
war. Marie legte ihm ein kleines Kissen in den Rücken
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