Offenbarung
Schwein die Stirn zu bieten«, sagte sie,
als verstehe sich das von selbst.
In der Hohen Muschel saß Antoinette Bax bereits am Tisch und
hatte ein geöffnetes Notepad vor sich. Cruz, Pellerin und
weitere Angehörige des Ältestenrats der Kolonie waren
ebenfalls anwesend, und nun stolzierte Blood so breitbeinig herein
wie ein Ringer.
»Hoffentlich habt ihr gute Gründe«, sagte er.
»Ich habe nämlich wahrhaftig genug anderen Mist am Hals, um
den ich mich kümmern muss.«
»Wo ist Scorpio?«, fragte Antoinette.
»Im Lazarett, um nach Mutter und Tochter zu sehen. Er kommt,
sobald er kann«, antwortete Blood.
»Und Malinin?«
»Ich habe jemanden gebeten, ihm Bescheid zu sagen.
Früher oder später wird er schon auftauchen.« Blood
ließ sich auf einen Stuhl fallen, zog automatisch sein Messer
und kratzte sich damit das Kinn. Es surrte wie ein Wespenschwarm.
»Wir haben ein Problem«, begann Antoinette. »In den
vergangenen sechs Stunden hat sich der Neutrinofluss vom Schiff etwa
verdreifacht. Wenn er sich um weitere zehn bis fünfzehn Prozent
erhöht, kann dieses Schiff nur noch nach oben.«
»Noch keine Abgase?«, fragte Cruz.
»Nein«, antwortete Antoinette, »und ich mache mir
große Sorgen, was passiert, wenn die Triebwerke
tatsächlich zünden. Als die Unendlichkeit landete,
lebte niemand im Umkreis der Bucht. Wir müssen uns ernsthaft
Gedanken machen, wie wir die Leute ins Landesinnere evakuieren
können. Ich würde ja empfehlen, alle auf die
äußeren Inseln zu bringen, aber mir ist klar, dass
Flugzeuge und Shuttles derzeit keine weiteren Einsätze
übernehmen können.«
»Träum ruhig weiter«, sagte Blood.
»Trotzdem müssen wir etwas unternehmen. Wenn sich der
Captain zum Start entschließt, bekommen wir Flutwellen und
Heißdampfwolken, der Lärm macht im Umkreis von hunderten
von Kilometern jeden taub, aus allen Löchern kommt
gefährliche Strahlung…« Antoinette verstummte. Das war
hoffentlich deutlich genug gewesen. »Einfach ausgedrückt,
die Umgebung wird so sein, dass man sich nur noch in einem Raumanzug
hier aufhalten kann.«
Blood schlug die Hände mit den kurzen Schweinefingern vors
Gesicht. Antoinette hatte ähnliche Gesten bei Scorpio gesehen,
wenn die Krisen von allen Seiten auf ihn einstürmten. Seit
Clavain tot war und Scorpio sich zurückgezogen hatte, trug Blood
die Verantwortung, die er sich immer so sehnlich gewünscht
hatte. Aber die Freude über die neue Befehlsgewalt hatte
vermutlich nicht länger als fünf Minuten angehalten.
»Ich kann die Stadt nicht evakuieren«, sagte er.
»Du hast keine Wahl«, beharrte Antoinette.
Er ließ die Hände sinken und deutete zum Fenster.
»Das verdammte Schiff gehört uns. Warum müssen
wir uns den Kopf darüber zerbrechen, was es vorhat? Eigentlich
sollte es doch tun, was wir ihm befehlen.«
»Tut mir Leid, Blood, aber so funktioniert es nicht«,
sagte Antoinette.
»Es wird eine Panik ausbrechen«, sagte Cruz, »wie
wir sie noch nie erlebt haben. Wir müssen alle
Abfertigungsstellen schließen und anderswohin verlegen. Dadurch
werden sich die Exodusflüge zur Unendlichkeit um
mindestens einen Tag verzögern. Und wo sollen die umgesiedelten
Menschen heute Nacht schlafen? Im Landesinneren gibt es nichts –
nur Felsen. Bei Tagesanbruch werden sie uns zu hunderten erfroren
sein.«
»Ich habe nicht alle Antworten parat«, sagte Antoinette.
»Ich zeige nur die Schwierigkeiten auf.«
»Es muss noch einen anderen Ausweg geben«, sagte Cruz.
»Verdammt, wir müssten doch für solche Fälle
Notfallpläne in der Schublade haben.«
»Mit ›müsste‹ und ›sollte‹ kommen
wir nicht weiter«, sagte Antoinette. Ein Ausspruch ihres Vaters.
Damals hatte sie sich schrecklich darüber aufgeregt, und nun
kamen genau die gleichen Worte aus ihrem eigenen Mund. Sie war
erschüttert.
»Pellerin«, sagte Blood, »was ist mit dem
Schwimmerkorps? Ararat scheint auf unserer Seite zu stehen, sonst
hätte es den Booten keine Fahrrinne zum Schiff frei gemacht.
Haben Sie etwas zu bieten?«
Pellerin schüttelte den Kopf. »Bedauere. Nicht jetzt.
Sobald es Hinweise gibt, dass sich die Schieberaktivität
normalisiert, könnte ein Erkundungsteam ins Wasser gehen, aber
nicht vorher. Ich schicke niemanden in den Tod, Blood, schon gar
nicht, wenn die Chancen auf ein brauchbares Ergebnis so gering
sind.«
»Ich verstehe«, sagte das Schwein.
»Warte mal«, sagte Cruz. »Warum drehen wir den
Spieß nicht einfach um? Wenn es so schlimm ist, beim Start in
der
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