Offenbarung
Spalte
gestürzt. Aber die Brücke war zweifellos älter als die
Straße. Bei genauerer Überlegung hielt es Rachmika
für eher unwahrscheinlich, dass die Brücke ausgerechnet zu
ihren Lebzeiten einstürzen sollte. Eigentlich wäre das
sogar ein außerordentliches Privileg.
Dennoch würde sie aufatmen, wenn die andere Seite erreicht
wäre.
Während sie aus dem Fenster schaute, zuckten wieder mehrere
Blitze auf wie damals auf dem Dach. Diesmal waren sie noch heller
– wahrscheinlich befand sich die Karawane jetzt näher an
der Stelle, wo sie entstanden –, und selbst wenn sie die Augen
schloss, blieben halbkugelförmige violette Nachbilder
zurück.
»Jetzt wüsstest du wohl gerne, was das ist«, sagte
eine Stimme.
Sie drehte sich um. Sie hatte Quästor Jones erwartet, aber
die Stimme klang anders. Sie gehörte einem jüngeren Mann,
der seinem Akzent nach aus dem Ödland stammte.
Harbin, dachte sie für einen Moment. Könnte es Harbin
sein?
Aber es war nicht ihr Bruder.
Sie kannte den Mann nicht. Er war größer als sie und
wohl auch ein wenig älter, doch etwas in seinem Gesichtsausdruck
– genauer gesagt, in seinen Augen – machte ihn sehr viel
älter. Er war an sich nicht hässlich. Er hatte ein
schmales, ernstes Gesicht mit ausgeprägten Wangenkochen und
einem Kinn von fast schmerzhafter Härte. Das Haar war für
ihren Geschmack zu kurz geschnitten, sodass sie seine
Schädelform genau erkennen konnte: der Traum jedes Phrenologen.
Die kleinen Ohren standen weit ab. Der Hals war zu dünn, und der
Adamsapfel bewegte sich in einer Weise, die sie bei Männern
immer erschreckend fand, so als hätte sich in seiner Kehle etwas
verschoben und müsste an seinen Platz zurückbefördert
werden, bevor ein Schaden entstand.
»Woher wollen Sie das wissen?«, erkundigte sich
Rachmika.
»Ich habe aber doch Recht?«
Sie runzelte die Stirn. »Und Sie wissen natürlich genau
Bescheid über diese Blitze?«
»Es sind Sprengungen«, sagte er so liebenswürdig,
als wäre er an schnippische Bemerkungen gewöhnt.
»Nukleare Sprengungen. Die Räumtrupps des Ewigen Weges machen auf diese Weise den Weg für die Kathedralen frei. Sie
sprechen von Gottesfeuer.«
Sie hatte bereits erraten, dass die Explosionen etwas mit dem Weg zu tun hatten. »Ich hätte nicht gedacht, dass
die Trupps nukleares Material verwenden.«
»Meistens tun sie das auch nicht. Ich habe die Nachrichten
nicht verfolgt, aber sie müssen auf einige ungewöhnlich
große Hindernisse gestoßen sein. Die könnte man
sicherlich mit herkömmlichen Sprengungen und mit Hacke und
Schaufel beseitigen, wenn man genügend Zeit hätte. Aber
genau daran krankt es, vor allem, wenn die Kathedralen ständig
näher kommen. Ich schätze, es war eine
Nachhutblockade.«
»O, ich bitte um Aufklärung.«
»Wenn die Kathedralen am Ende des Zuges an Boden verlieren,
sabotieren sie manchmal hinter sich den Weg, sodass die
Kathedralen an der Spitze bei der nächsten Runde Schwierigkeiten
bekommen. Natürlich lässt sich das nie
beweisen…«
Sie betrachtete seine Kleidung: lange Hosen, ein Hemd mit
Stehkragen und weiten Ärmeln, flache Schuhe; alles grau und
unauffällig. Kein Rangabzeichen, kein Statussymbol, nichts, was
auf seine Vermögenslage oder seine Religionszugehörigkeit
hätte schließen lassen.
»Wer sind Sie?«, fragte Rachmika. »Sie tun so, als
wären wir uns schon begegnet, dabei kenne ich Sie überhaupt
nicht.«
»Und ob du mich kennst«, sagte der junge Mann.
Sein Gesicht verriet, dass er die Wahrheit sagte oder zumindest
selbst davon überzeugt war. Seine Selbstsicherheit weckte bei
ihr einen ganz und gar irrationalen Widerstand. Jetzt wollte sie erst
recht nicht nachgeben.
»Ich glaube, Sie irren sich.«
»Ich will damit sagen, wir sind uns schon begegnet. Und du
hast dich noch nicht einmal bei mir bedankt.«
»Tatsächlich?«
»Ich habe dir das Leben gerettet – oben auf dem Dach. Du
hast in den Zugangsschacht hinuntergeschaut und wärst fast
gestürzt. Ich habe dich aufgefangen.«
»Das waren nicht Sie«, sagte sie. »Das
war…«
»Ein Observator? Ganz richtig. Trotzdem kann ich es gewesen
sein.«
»Reden Sie keinen Unsinn«, sagte Rachmika.
»Warum glaubst du mir nicht? Hast du denn mein Gesicht
gesehen?«
»Nicht genau, nein.«
»Dann kannst du auch nicht daran zweifeln, dass ich es war.
Ja, ich weiß, jeder hätte da oben stehen können. Aber
wer hat sonst noch gesehen, was passiert ist?«
»Sie können kein Observator sein.«
»Nein, jetzt
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