Offene Rechnungen
nach Lehrbuch beziehungsweise der praktischen Erfahrung aus diversen Mordermittlungen vor, so viel Einblick hatte Simon mittlerweile in die Kriminalistik. Esther wusste natürlich, dass die meisten Mörder aus dem unmittelbaren Umfeld der Opfer stammten. Familienangehörige standen dabei selbstverständlich ganz oben auf der Liste. Warum sie trotzdem Ariane gegenüber bisher sehr zurückhaltend vorgegangen war, auch das konnte der Arzt nachvollziehen. Dafür schätzte er Esther umso mehr, aber vielleicht war das Vorgehen trotzdem falsch gewesen.
»Sie können unmöglich glauben, dass Ariane etwas mit dem Mord an Ralph zu tun hat. Nie im Leben!«
Esther kämpfte spürbar um ihre Beherrschung. Gut, sie hatte einige Fehler in den Ermittlungen gemacht. Doch Ariane stand als Täterin für sie außerhalb jeder Überlegung, wie sie unmissverständlich klarstellte. Als die Worte über ihre Lippen kamen, erkannte Esther, wie plump es klang. Sie hörte ihre eigene Wut heraus und die musste Reuter einfach falsch einschätzen.
»Ich schließe niemanden aus den Ermittlungen aus, solange seine Unschuld nicht zweifelsfrei erwiesen ist. Doktor Vester ist schließlich dabei, um möglichen Überreaktionen von Frau Wiese zu begegnen«, blieb der Kieler Hauptkommissar unnachgiebig.
Frank spürte Verdruss über diese sinnlose Diskussion auf dem Parkplatz der Inspektion, die zudem auch noch unter Zeugen stattfand. Sowohl Doktor Vester als auch einige uniformierte Kollegen verfolgten dieses Wortgefecht. Offenbar erkannte endlich auch Oberkommissarin Helmholtz die Sinnlosigkeit der Diskussion, denn sie erteilte ihm mit tonloser Stimme die Anweisungen für die Fahrstrecke.
Während Simon seinen Audi wenige Minuten später hinter dem Passat am neu gebauten Obereiderhafen entlang steuerte, beobachtete er die beiden Gestalten vor sich im Wagen. Esther saß mit gesenkten Schultern im Sitz, erteilte rechtzeitig Fahrhinweise, sodass Reuter sich über die Hollesenstraße der Abzweigung zur Schleswiger Chaussee näherte. Da sie an der Kreuzung an einer roten Ampel warten mussten, konnte Simon die großen Werbeplakate der verschiedenen Unternehmen im Gewerbegebiet studieren. Wer sich in Rendsburg nicht auskannte, musste zwangsläufig an seiner Fahrroute zweifeln. Trotzdem stimmte der Weg und das lag einfach in der Stadtentwicklung begründet. Der Rotenhöfer Weg war eine alte Straße mit Einfamilienhäusern, die schon vor dem Einkaufsgebiet existiert hatte. Nachdem die Ampel auf Grün umgeschaltet hatte, fuhren die beiden Wagen gleich in die erste Straße rechts ab. Als Reuter den Passat auf die schmale Garagenauffahrt des Hauses lenkte, suchte Simon sich einen freien Platz zwischen den Bäumen an der Straße.
»Warten Sie bitte noch einen Augenblick, Herr Reuter. Der Tod von Ralph hat Ariane sehr schwer mitgenommen. Sie ist in therapeutischer Behandlung. Sollten wir nicht die Psychologin zur Befragung hinzuziehen?«
Esther sah bittend in die grünen Augen des Hauptkommissars, der seine Kollegin nachdenklich anschaute. Schließlich nickte er zustimmend.
»Meinetwegen, Frau Helmholtz. Schaffen Sie diese Therapeutin ran, während ich mich mit Frau Wiese bekannt mache.«
Simon verfolgte den kurzen Dialog aufmerksam und fand den Vorschlag von der Oberkommissarin sehr gut. Ihn selbst verband eine Freundschaft mit der Psychologin Dr. Juliane Wagenknecht. Reuter stieg aus dem Passat aus und ließ eine verwunderte Esther zurück, die Simon ein Zeichen machte. Also wartete Simon neben der offenen Beifahrertür und lauschte dem Anruf. Esther hatte ihr Handy eingeschaltet und wählte die Telefonnummer der Praxis von Dr. Juliane Wagenknecht. Schon nach dem zweiten Läuten meldete sich die vertraute Stimme ihrer Freundin.
»Jule? Esther hier. Kannst du dich freimachen und sofort zum Haus von Ariane Wiese kommen?«
Auf die besorgte Nachfrage der Psychologin erklärte Esther die Situation. Zum Glück reagierte Juliane mit dem üblichen Tempo und versprach, umgehend in den Rotenhöfer Weg zu kommen.
»Halte deinen Kollegen bitte so lange von einer Befragung ab, Esther. Ich habe keine Vorstellung, wie Ariane mit einer direkten Konfrontation umgehen wird.«
Esther sah kopfschüttelnd auf ihr Handy, dessen Display die unterbrochene Verbindung anzeigte.
»Gerne, Jule. Nur wie? Kannst du den Hauptkommissar nicht zurückhalten Simon?«
»Sollte ich eine gesundheitliche Gefährdung von Ariane befürchten, werde ich selbstverständlich umgehend einschreiten. Mehr kann ich
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