Ohne Beweis (German Edition)
und blickte so bedrohlich und einschüchternd, wie ich nur konnte, zu Nora und Joska. Doch was dann passierte, hätte niemand von uns auch nur erahnen können.
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Der Krach war so ohrenbetäubend, dass alle vier Menschen in der kleinen Hütte zuerst zusammenzuckten, um sich dann verständnislos anzuschauen. Bevor jedoch auch nur einer einen Ton sagen konnte, brach die Decke über ihnen ein und begrub sie alle unter zahllosen Balken und Brettern. Ein Blitz hatte in einen nahe stehenden Baum eingeschlagen, dieser war umgestürzt und direkt auf die Holzhütte gekracht. Die plötzliche Ruhe nach diesem höllischen Lärm war unheimlich, obwohl der Sturm immer noch um die Hütte tobte. Während im Wald die Bäume rauschten und der Wind heulte, war es in der Hütte totenstill. Nichts regte sich, kein menschlicher Laut war zu hören.
Erst als sich das Gewitter verzogen hatte, rührte sich in dem Bretterhaufen etwas. Carmen war als erste zu sich gekommen, doch sie konnte sich nicht bewegen. Kamil lag schwer auf ihr und rührte sich nicht. War er tot? Carmen bekam Panik und versuchte verzweifelt, Kamil von sich zu schieben, doch es gelang ihr nicht. Auf dem Reglosen lagen einige Balken und erschwerten es Carmen noch zusätzlich, sich irgendwie bewegen zu können. Alles Drücken und Schieben half nichts – sie saß hier fest! Was war nur passiert? Sie konnte sich nur noch daran erinnern, dass Nora sie hier in der Hütte aufgestöbert und dass Kamil sie geschlagen hatte, aber warum eigentlich, das wusste sie nicht mehr. Ihr Kopf tat höllisch weh, alles drehte sich und sie konnte keinen klaren Gedanken fassen.
„Jetzt reiß dich zusammen, Carmen!“, beschwor sie sich und fasste unter Aufbringung ihrer ganzen Kräfte an Kamils Hals. Einerseits erfreut, andererseits auch panisch erkannte sie, dass er noch lebte. Doch woher diese Panik kam, konnte sie nicht erfassen. Kamil war doch ihr Freund, oder nicht? Warum war sie nur so unendlich verwirrt, wenn sie an ihn dachte? Wo waren sie hier eigentlich? Auch daran, wie sie hier her gekommen war, konnte sie sich nur vage erinnern. Was sollte sie jetzt tun? Sie war hier ganz allein mit dem bewusstlosen Kamil und niemand wusste, wo sie war. Ob Kamil jemandem gesagt hatte, wo er hingehen wollte?
Kamil hatte zwar niemandem gesagt, wo er hingehen wollte, doch ein junges, enttäuschtes und wütendes Mädchen hatte sich trotz des aufziehenden Gewitters auf den Weg gemacht, Kamil zu suchen. Denn Kamil war womöglich der einzige, der ihr helfen konnte, mehr über diesen süßen Joska herauszufinden. Dass der einfach abgehauen und sie hatte so abblitzen lassen, wollte und konnte sie nicht einfach auf sich sitzen lassen. Immerhin hatte er sie geküsst – und wie! – und das konnte ihm doch nicht gar nichts bedeutet haben. Kinga musste ihn wiedersehen und zu diesem Zweck war sie zunächst wieder zu Kamils Wohnung gefahren. Dort war er aber nicht gewesen und so hatte sie sich auf den Weg zu seinem Sommerhäuschen gemacht. Er hatte das mal bei einer Gelegenheit erwähnt gehabt und Kinga hatte sich jetzt daran erinnert. Vielleicht war er dort und sie konnte ihn über Joska ausfragen.
Gerade, als sie den Waldparkplatz erreicht und überlegt hatte, ob sie es mit ihrem klapprigen Fahrrad überhaupt schaffen würde, den steilen Trampelpfad hinauf zu fahren, hatte es einen fürchterlichen Schlag getan und Kinga war sich sicher, dass der Blitz irgendwo eingeschlagen hatte. Nur wo genau, das hatte sie nicht ausmachen können. Ob sie es wagen konnte, bei diesem Sturm hier im Wald herumzufahren? Aber jetzt war sie ja schon mal hier und soweit sie sich noch erinnern konnte, war die kleine Hütte nicht mehr allzu weit entfernt. Doch schon nach ein paar Metern gab sie erschöpft auf und warf ihr Fahrrad an den Rand des Weges. Zu Fuß war sie bestimmt schneller und der plötzlich einsetzende Platzregen gab ihr dann noch mehr Anlass, sich zu beeilen.
Carmen war inzwischen am Ende ihrer Kräfte angelangt. Sie schaffte es einfach nicht, Kamil von sich zu schieben oder unter ihm hervor zu kriechen. Sie musste doch Hilfe holen, denn von Nora war auch nichts zu hören. Vielleicht war sie auch gar nicht mehr in der Hütte gewesen? Sie konnte nicht ermessen, wie schwer verletzt Kamil war, doch dass sie ihm irgendwie helfen musste, war ihr klar. Doch andererseits – wollte sie ihm überhaupt helfen? Hatte er sie nicht schon oft bedrängt und sogar bedroht? Vage konnte sie sich
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