Ohne Beweis (German Edition)
noch daran erinnern, dass er etwas ganz bestimmtes von ihr hatte wissen wollen, doch was genau, wusste sie nicht mehr. Wenn er jetzt und hier sterben würde, brauchte sie keine Angst mehr vor ihm zu haben und er bräuchte nicht mehr nach dem suchen, was ihn so sehr beschäftigte. Dennoch – einen Menschen einfach so sterben zu lassen, ohne wenigstens versucht zu haben, ihm zu helfen, das konnte Carmen dann doch nicht.
Wo war nur ihre Handtasche? Hatte sie überhaupt eine? Hatte sie irgendwo ein Handy? Oder hatte Kamil eines? Verzweifelt tastete sie um sich, konnte jedoch außer herumliegenden Holzteilen nichts finden. Zögernd und unter größtem Widerwillen tastete sie dann Kamils hintere Hosentaschen ab, denn er lag mit dem Bauch auf ihr. Als sie da nichts finden konnte, hielt sie inne und versuchte zu erspüren, ob er eventuell in den vorderen Taschen etwas stecken hatte. Und tatsächlich! Sie konnte etwas Hartes an ihrer Hüfte spüren – vielleicht war das ein Handy? Mit neuer Zuversicht versuchte die immer verzweifelter, aber auch schwächer werdende Frau, ihre Hand zwischen sich und Kamil zu stecken – doch es ging nicht. Sie waren so aneinander gepresst und von den schweren Balken eingekeilt, dass sie es nicht schaffte. Mit einem markerschütternden Schrei versuchte Carmen ihre Verzweiflung herauszubrüllen und neue Kräfte zu sammeln, doch es half alles nichts – sie saß hier fest und niemand würde ihr helfen.
Diesen unmenschlichen Schrei hatte jedoch jemand gehört – nämlich die inzwischen klatschnasse Kinga, die sich gerade durch das letzte Stückchen Wald gekämpft hatte und nun völlig entsetzt vor der zusammengekrachten Hütte stand. Sie hatte beim Anblick der Hütte total verdrängt, dass da noch jemand unter den Trümmern sein könnte, doch der Schrei hatte ihr augenblicklich klar gemacht, dass hier jemand verschüttet, aber allem Anschein nach noch am Leben war. Doch die schmächtige junge Dame war sich sofort bewusst, dass sie hier alleine rein gar nichts würde ausrichten können. Sie holte ihr Handy hervor und durfte zum ersten Mal in ihrem Leben erfahren, welch wertvolle Einrichtung es doch war, dass man auch ohne Geld auf der Speicherkarte einen Notruf absetzen konnte. Nachdem sie das erledigt hatte, gab der Akku ihres Handys durch einen Piepton zu verstehen, dass er nun bald aufgeladen werden müsse. Hoffentlich hielt er noch ein bisschen durch, falls die Polizei sie anhand ihrer stümperhaften Wegbeschreibung doch nicht gleich finden würde. Das Mädchen fluchte über die Technik, während sie versuchte, gegen den Wind anzubrüllen:
„Kamil! Jesteś tam?“
„Ich bin hier!“, bekam sie stattdessen von einer Frauenstimme zur Antwort. Wer das wohl war? Vielleicht eine Freundin von Kamil?
„Wo sind Sie? Sein Sie verletzt?“, schrie Kinga gegen den brüllenden Wind an. Dabei kämpfte sie sich über die Trümmer voran in die Richtung, aus der sie die Stimme vermutete.
„Hier! Hier bin ich!“, rief Carmen so laut sie konnte zurück. Auf die zweite Frage konnte sie noch gar nicht antworten, denn sie hatte sich ja bisher noch nicht viel bewegen können. Ihren verstauchten Knöchel hatte sie vergessen, doch nun, als sie versuchte, alles nicht Eingeklemmte zu bewegen, spürte sie den Schmerz in ihrem Fuß überdeutlich. Doch ansonsten schien sie unverletzt zu sein.
„Mir geht es gut. Ich bin nur total eingeklemmt. Kamil liegt auf mir!“, keuchte Carmen mit letzter Kraft, schreien konnte sie nun nicht mehr. Sie war einfach zu erschöpft.
„Ich Sie aber nicht finden können, Frau! Bitte nochmal rufen!“, hörte sie wie aus weiter Ferne den Ruf ihrer Retterin. Doch Carmen schaffte es nicht mehr, ihre Stimme zu erheben. Langsam schwanden ihre Sinne, bis auch sie in einer wohltuenden Bewusstlosigkeit versank.
„Nieszczęśliwy gówno!“, murmelte Kinga in ihrer Muttersprache, denn so ließ sich einfach besser fluchen. Lauter rief sie: „Wo sind Sie, verdammt!“ Sie begann nun hektisch, die leichteren Balken wegzuräumen, doch die Dunkelheit erschwerte ihr die Arbeit sehr.
Doch plötzlich, wie mit einem Lichtschalter betätigt, hörte der Wind auf und die Sonne schaute durch ein paar Wolkenfetzen hindurch. Dieser kleine Lichtstrahl reichte der jungen Retterin aus, um einen Stofffetzen und einen Fuß erkennen zu können. Hastig robbte sie darauf zu und klopfte vorsichtig auf den zerschrammten Fuß. Doch als keine Reaktion kam, schaute sie ihn sich
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