Ohne ein Wort
es.
»Vorsicht«, hörte ich Clayton. »Das Papier ist bestimmt schon brüchig.«
Ich hielt den Atem an, während ich die Zeilen überflog.
Als ich die Treppe wieder nach oben gestiegen war, erklärte mir Clayton, was ich mit dem Umschlag machen sollte.
»Versprechen Sie’s?«, fragte er.
»Versprochen«, sagte ich und steckte den Umschlag ein.
Dann kümmerte ich mich noch einmal um Vince.
»Es kann nicht mehr lange dauern, bis die Ambulanz da ist«, sagte ich. »Schaffst du’s solange?«
Vince war ein harter Knochen; wenn es einer schaffen würde, dann er, da war ich mir sicher. »Kümmere dich um deine Frau und deine Kleine«, sagte er. »Und schubs die Alte vor den nächsten Laster, wenn du sie in die Finger kriegst.« Er hielt inne. »Im Wagen ist eine Knarre. Ich hätte sie gleich mitnehmen sollen.«
Ich fühlte seine Stirn. »Du packst es.«
»Hau schon ab«, flüsterte er.
»Der Honda in der Einfahrt«, fragte ich Clayton. »Ist er fahrtüchtig?«
»Klar«, erwiderte Clayton. »Das ist meiner. Aber ich habe ihn schon seit Ewigkeiten nicht mehr gefahren.«
»Vince’ Pick-up sollten wir besser nicht nehmen«, sagte ich. »Die Cops haben inzwischen garantiert eine Beschreibung, und das Nummernschild hat sich bestimmt auch jemand gemerkt.«
Er nickte und wies auf eine dekorative Schale auf einem Tischchen neben der Haustür. »Da sind die Schlüssel«, sagte er.
»Einen Moment noch«, sagte ich.
Ich lief ums Haus zu Vince’ Pick-up, kramte im Handschuhfach, in den Ablagen an den Türen. In der Konsole zwischen den Sitzen wurde ich fündig. Unter einem Stapel Landkarten lag seine Pistole.
Ich hatte nicht viel Ahnung von Waffen und fühlte mich alles andere als wohl, als ich die Knarre in meinen Gürtel steckte. Ich hatte schon genug Probleme; eine selbst zugefügte Schussverletzung fehlte mir gerade noch. Ich lief zu Claytons Honda, setzte mich hinters Steuer und verstaute die Waffe im Handschuhfach. Dann startete ich den Motor und fuhr über den Rasen so nah wie möglich an die Haustür.
Clayton trat aus dem Haus, sehr wacklig auf den Beinen. Ich stieg aus dem Wagen, öffnete die Beifahrertür, half ihm hinein und schnallte ihn an.
»Okay«, sagte ich. »Los geht’s.«
Wir fuhren los und bogen auf der Hauptstraße rechtsin nördlicher Richtung ab. »Das war aber allerhöchste Eisenbahn«, bemerkte Clayton, als uns ein Krankenwagen entgegenkam, gefolgt von zwei Streifenwagen mit blinkendem Blaulicht.
Als wir auf dem Highway waren, hätte ich das Gaspedal am liebsten voll durchgetreten, wollte aber nicht das Risiko eingehen, angehalten zu werden. Daher fuhr ich nur leicht über dem Limit, um keine Aufmerksamkeit zu erregen.
Hinter Buffalo legte sich meine Nervosität ein wenig. Nachdem wir uns ein gutes Stück von Youngstown entfernt hatten, liefen wir kaum noch Gefahr, von einer Streife angehalten zu werden.
Ich wandte mich zu Clayton, der, den Kopf an die Kopfstütze gelehnt, still neben mir saß, und sagte: »Na, dann lassen Sie mal hören. Die ganze Geschichte.«
»Okay«, sagte er und räusperte sich.
VIERUNDVIERZIG
Seine Ehe beruhte auf einer Lüge.
Seine erste Ehe, erläuterte Clayton. Nun ja, die zweite auch. Er würde später darauf zurückkommen. Es war eine lange Fahrt nach Connecticut. Jede Menge Zeit, über alles zu sprechen.
Zunächst aber erzählte er von seiner Ehe mit Enid. Er kannte sie aus der Highschool; sie waren beide in Tonawanda, einem Vorort von Buffalo, zur Schule gegangen. Danach hatte er auf dem von Jesuiten geführten Canisius College Betriebswirtschaft studiert und nebenbei Seminare in Philosophie und Theologie belegt. Da die Uni nicht weit entfernt lag, hätte er zu Hause wohnen und pendeln können, doch er mietete sich trotzdem ein kleines Zimmer in der Nähe des Campus.
Nach seinem Abschluss lief ihm zufällig Enid über den Weg. Sie begannen sich regelmäßig zu treffen. Enid war ein willensstarkes Mädchen, gewohnt, das zu bekommen, was sie wollte. Und dafür setzte sie ihre Vorzüge rücksichtslos ein. Sie war ausgesprochen attraktiv und hatte einen ausgeprägten sexuellen Appetit, zumindest anfangs.
Eines Nachts erzählt sie ihm unter Tränen, dass ihre Periode überfällig ist. »O nein«, sagt Clayton Sloan. Zuallererst kommt ihm in den Sinn, was seine Elterndenken werden, denen seit jeher nichts über Sitte und Anstand geht – und nun hat ihr Junge ein Mädchen geschwängert. Was nur die Nachbarn sagen werden!
Und so bleibt ihm nichts
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