Ohne ein Wort
diesen Anruf ja schon seit Ewigkeiten erwartet. Aber was sie getan hatte, wäre mir in meinen schlimmsten Albträumen nicht eingefallen. Sie gab mir nur kurz durch, sie sei auf dem Parkplatz hinter dem Denny’s – die Steakhouse-Kette kennen Sie ja bestimmt. Ich solle mich verdammt noch mal beeilenund eine Rolle Papiertücher mitbringen. Ich hetzte aus dem Haus und fuhr rüber zu Denny’s. Erst dachte ich, sie sei im Restaurant, aber sie saß in ihrem Auto. Nach dem, was sie getan hatte, konnte sie nämlich nicht aussteigen.«
»Warum?«, fragte ich.
»Weil sie von oben bis unten voller Blut war.«
Ein eiskalter Schauder lief mir über den Rücken.
»Mir wurde schlecht, als ich an das Autofenster trat. Ihre Hände sahen aus, als hätte sie in ein Ölfass gegriffen. Erst habe ich überhaupt nichts kapiert, weil sie die Ruhe selbst war. Sie sagte nur, ich solle einsteigen, und dann sah ich das ganze Blut. Ihr Mantel, ihr Kleid, alles voller Blut. Ich habe sie angeschrien: ›Um Gottes willen, was hast du getan? Was hast du nur getan?‹ Obwohl ich bereits ahnte, was geschehen war.
Enid hatte vor unserem Haus geparkt. Offenbar war sie erst eingetroffen, nachdem ich Cynthia nach Hause gebracht hatte. Die Adresse hatte sie von der Telefonrechnung. Und nun sah sie auch noch meinen Wagen mit einem Kennzeichen aus Connecticut in der Einfahrt. Sie brauchte nicht lange, um zwei und zwei zusammenzuzählen. Als Patricia und Todd aus dem Haus kamen und in die Stadt fuhren, folgte sie ihnen. Sie muss außer sich vor Wut gewesen sein. Darüber, dass ich mir ein anderes Leben mit einer anderen Familie aufgebaut hatte.
Sie fuhr ihnen zum Drogeriemarkt hinterher und folgte ihnen hinein. Vermutlich war sie wie vor den Kopf geschlagen, als sie Todd im hellen Licht des Ladens erblickte – wie gesagt, er sah Jeremy unglaublich ähnlich. Der Moment muss der Auslöser gewesen sein.
Enid verließ den Laden vor Patricia und Todd und ging zurück zu ihrem Wagen. Um diese Uhrzeit war der Parkplatz fast komplett verlassen. Damals besaß Enid keinen Revolver, aber im Handschuhfach bewahrte sie ein Messer auf, um sich notfalls zur Wehr setzen zu können. Sie holte das Messer, lief zurück und versteckte sich hinter der Ecke des Drogeriemarkts in einer dunklen Gasse, in der sonst Waren entladen wurden.
Todd und Patricia kamen aus dem Laden. Todds Zeichenpapier befand sich in einer großen Papprolle, die er wie ein Gewehr schulterte.
Plötzlich tauchte Enid aus dem Dunkel auf. ›Hilfe!‹, rief sie.
Todd und Patricia blieben stehen und starrten die fremde Frau an.
›Meine Tochter!‹, rief Enid. ›Sie ist verletzt!‹
Patricia lief ihr hinterher. Todd folgte.
Sobald sie in der dunklen Gasse waren, wandte Enid sich um. ›Sie sind doch Claytons Frau, stimmt’s?‹«
Clayton hielt inne und sah mich an.
»Patricia war wahrscheinlich völlig perplex«, sagte er dann. »Zuerst bittet die fremde Frau sie um Hilfe und dann stellt sie ihr aus heiterem Himmel so eine Frage.«
»Was hat sie erwidert?«
»Ja. Und im selben Moment hat Enid ihr die Kehle aufgeschlitzt. Ohne auch nur eine Sekunde zu zögern. Alles ging so schnell, dass Todd im Dunkeln vermutlich gar nicht richtig mitbekommen hat, was passierte. Und einen Augenblick später hat sie ihm ebenfalls die Kehle durchgeschnitten, genauso blitzschnell wie seiner Mutter.«
»Und all das wissen Sie von Enid, nicht wahr?«, sagte ich.
»Unzählige Male hat sie es mir erzählt«, sagte Clayton leise. »Sie liebt es, davon zu reden. Sie sagt immer, es seien ihre schönsten Erinnerungen.«
»Und dann?«
»Dann hat sie mich von der nächsten Telefonzelle aus angerufen. Und als ich auf den Parkplatz kam, hat sie mir alles erzählt. ›Ich habe sie umgebracht‹, hat sie gesagt. ›Deine Frau und deinen Sohn. Sie sind beide tot.‹«
»Jetzt wird mir einiges klar«, sagte ich.
Clayton nickte schweigend.
»Enid war nicht klar, dass Sie noch eine Tochter hatten.«
»Darauf ist sie nicht gekommen«, sagte Clayton. »Wahrscheinlich wegen der Symmetrie des Ganzen. Ich hatte eine Frau und einen Sohn in Youngstown, eine Frau und einen Sohn in Milford. Mein zweiter Sohn sah fast genauso aus wie der erste. Es muss auf sie gewirkt haben, als hätte ich mir ein spiegelbildliches Leben aufgebaut. Jedenfalls merkte ich genau, dass sie keine Ahnung von Cynthia hatte.«
»Und Sie haben ihr auch nichts davon erzählt.«
»So viel Geistesgegenwart besaß ich noch, auch wenn ich unter Schock
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