Ohne ein Wort
Clayton einen Blick zu. »Wie ist das Kennzeichen?«
Er schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht.«
»Sind Sie auf dem Weg hierher?«, fragte Detective Wedmore.
»Ja. Aber wir brauchen noch ein paar Stunden. Sie müssen Cynthia finden. Rolly Carruthers ist bereits auf der Suche nach ihr … der Direktor der Schule, an der ich unterrichte.«
»Mr Archer …«
»Wir müssen los«, sagte ich, steckte das Handy ein und fuhr wieder auf den Thruway.
»Also«, nahm ich den Faden seiner Lebensgeschichte wieder auf. »Gab es solche Momente? Augenblicke, in denen Sie glücklich waren?«
Momente des Glücks erlebt er nur als Clayton Bigge. Er liebt Todd und Cynthia, und soweit er es beurteilen kann, lieben sie ihn auch; manchmal hat er sogar das Gefühl, dass sie zu ihm aufsehen. Ihnen wird nicht jeden Tag aufs Neue eingeimpft, dass ihr Vater eine Nullist. Was noch lange nicht heißt, dass sie ihm immer aufs Wort folgen würden – tja, aber so sind Kids eben nicht, oder?
Manchmal, wenn sie spätabends im Bett liegen, sagt Patricia zu ihm: »Du wirkst so geistesabwesend. Als wärst du gar nicht richtig hier.«
Dann nimmt er sie in die Arme und erwidert: »Ich will nirgendwo anders als bei dir sein.« Das ist keine Lüge. Er hat noch nie etwas so Wahres gesagt. Diverse Male hat er mit dem Gedanken gespielt, ihr alles zu erzählen, weil er das Lügen satthat. Er hasst sein anderes Leben.
Denn genau dazu ist sein Leben mit Enid und Jeremy geworden. Zu seinem anderen Leben. Auch wenn es sein eigentliches Leben ist, jenes Leben, in dem er seinen wirklichen Namen benutzen, jederzeit seinen Ausweis vorzeigen kann, quält es ihn mehr und mehr, Woche für Woche, Monat für Monat, Jahr für Jahr nach Youngstown zurückkehren zu müssen.
Und doch gewöhnt er sich in gewisser Weise an die komplizierten Umstände seines Doppellebens. An die Ausflüchte, an die Geschichten, die er sich ausdenken muss – etwa, warum er zu Weihnachten nicht zu Hause sein kann. Am 25 . Dezember ruft er dann, die Taschen voller Kleingeld, von einem Münztelefon in Youngstown bei seinen Lieben in Milford an, um Patricia und den Kindern frohe Weihnachten zu wünschen.
Einmal überkommt ihn in seinem Haus in Youngstown der Katzenjammer. Er schließt die Schlafzimmertür und beginnt zu weinen. Nur ganz kurz, um sich zu erleichtern, seiner Traurigkeit freien Lauf zu lassen.Doch Enid hat ihn gehört. Sie kommt herein, setzt sich zu ihm aufs Bett.
Er wischt sich die Tränen von den Wangen, reißt sich zusammen, so gut es eben geht.
Enid legt ihm eine Hand auf die Schulter. »Mach hier nicht einen auf Heulsuse«, sagt sie.
Natürlich herrscht auch in Milford nicht immer nur die reine Idylle. Mit zehn erkrankt Todd an einer schweren Lungenentzündung, die Patricia und Clayton vorübergehend um sein Leben fürchten lässt. Aus Cynthia wird ein ausgesprochen schwieriger Teenager. Sie rebelliert gegen ihre Eltern, hat schlechten Umgang, probiert Sachen aus, für die sie viel zu jung ist, trinkt Alkohol, nimmt vielleicht sogar Drogen.
Ihm fällt es zu, ihr die Grenzen aufzuzeigen. Patricia ist geduldiger, zeigt mehr Verständnis für ihre Tochter. »Ach, das ist nur eine Phase«, pflegt sie zu sagen. »Das legt sich schon wieder. Lass uns einfach für sie da sein.«
Ist Clayton in Milford, wünscht er sich nichts weiter als eine heile Welt. Und oft ist diese Welt zum Greifen nah.
Doch dann muss er wieder so tun, als ginge es auf die nächste Geschäftsreise. Und schon ist er wieder nach Youngstown unterwegs.
Von Anfang an hat er sich gefragt, wie lange er sein Doppelleben wohl würde aufrechterhalten können.
Und manchmal kommt ihm der nächste Brückenpfeiler erneut wie die Lösung all seiner Probleme vor.
Zuweilen wacht er morgens auf und fragt sich, wo er ist. Wer ist er heute?
Und von Zeit zu Zeit unterlaufen ihm kleine Fehler.
Einmal fährt er mit einem Einkaufszettel von Enid nach Lewiston in den Supermarkt, um ein paar Besorgungen zu machen. Eine Woche später kommt Patricia, die gerade seine Sachen in die Waschmaschine gesteckt hat, in die Küche. In der Hand hält sie den Einkaufszettel. »Was ist denn da in deine Hosentasche geraten?«, fragt sie. »Also, meine Handschrift ist das jedenfalls nicht.«
Clayton sackt das Herz in die Hose. Seine Gedanken überschlagen sich. »Ach, der Zettel lag gestern in einem Einkaufswagen, als ich im Supermarkt war. Ich habe ihn eingesteckt, weil ich mal schauen wollte, was andere Leute so
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