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Ohne ein Wort

Ohne ein Wort

Titel: Ohne ein Wort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linwood Barclay
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irgendwas?«, rief Cynthia von oben.
    Ja. Eine Waschmaschine und einen Trockner, eine Werkbank, auf der jede Menge Krimskrams herumlag, eine Phalanx von so gut wie leeren Farbeimern, ein altes Klappbett. Und das war’s auch schon.
    Ich ging wieder nach oben. »Nichts«, sagte ich.
    Cynthia starrte immer noch den Hut an. »Er war hier«, sagte sie.
    »Wer?«
    »Mein Vater. Er war hier.«
    »Cynthia … Okay, jemand war hier und hat den Hut da auf den Küchentisch gelegt. Aber das bedeutet noch lange nicht, dass es dein Vater war.«
    »Es ist sein Hut«, sagte sie, gefasster, als ich erwartet hätte. Ich ging zum Tisch und streckte die Hand aus, um mir den Hut genauer anzusehen.
    »Nicht anfassen!«, platzte sie heraus.
    »Der beißt nicht«, sagte ich, hob ihn vorsichtig mit Daumen und Zeigefinger an und drehte ihn dann mit beiden Händen um.
    Der Hut war alt, keine Frage. Der Krempenrand war abgewetzt, das ehemals weiße Futter dunkel, die Oberfläche leicht speckig.
    »Es ist bloß ein Hut«, sagte ich.
    »Sieh mal hinein«, sagte sie. »Damals, bevor er verschwunden ist, musste mein Vater sich ständig neue Hüte kaufen. In Restaurants haben dauernd irgendwelche Leute aus Versehen seinen Hut mitgenommen, und deshalb hat er schließlich mit schwarzem Filzstift ein ›C‹ auf das Innenband geschrieben. C wie Clayton.«
    Mit dem Zeigefinger fuhr ich an der Innenseite entlang und klappte das Innenband heraus. Und da war es, hinten rechts – ein »C«, klar und deutlich erkennbar. Ich drehte den Hut so, dass Cynthia es sehen konnte.
    Sie holte tief Luft. »O Gott.« Zögernd trat sie zu mir und streckte die Hand aus. Ich reichte ihr den Hut, undsie ergriff ihn, als handele es sich um ein Artefakt aus der Grabkammer des Tutanchamun. Andächtig hielt sie ihn in Händen, ehe sie ihn langsam ans Gesicht hob. Einen Augenblick lang dachte ich, sie wolle ihn aufsetzen, doch führte sie ihn lediglich an die Nase und roch daran.
    »Das ist sein Hut«, sagte sie.
    Es wäre sinnlos gewesen, darüber zu diskutieren. Ich wusste genau, wie stark der Geruchssinn auf das Erinnerungsvermögen wirken kann. Ich erinnerte mich daran, wie ich als Erwachsener einmal mein Geburtshaus – ich war vier gewesen, als meine Eltern dort ausgezogen waren – besucht und die neuen Eigentümer gefragt hatte, ob ich es mir ansehen dürfte. Sie ließen mich bereitwillig ein, und obwohl mir die Zimmer, die knarrende vierte Stufe auf der Treppe zum ersten Stock und der Blick aus dem Küchenfenster in den Garten ausgesprochen vertraut vorkamen, wurden meine Erinnerungen erst richtig geweckt, als ich mich in den Stauraum unter der Treppe beugte und mir der Geruch von feuchtem Zedernholz in die Nase stieg. Mir wurde beinahe schwindlig, als plötzlich eine Flut von Erinnerungen gleichsam über mich hinwegzubranden schien.
    Ich konnte also durchaus nachvollziehen, was in Cynthia vorging. Es war der Geruch ihres Vaters, den sie wahrnahm.
    Sie wusste es einfach.
    »Er war hier«, sagte sie. »Hier in der Küche, hier in unserem Haus. Aber warum, Terry? Warum war er hier? Warum hat er das getan? Warum hat er seinen Hut liegen lassen, aber nicht auf mich gewartet?«
    »Cynthia.« Ich gab mir alle Mühe, so ruhig wie möglich zu bleiben. »Selbst wenn der Hut von deinem Vater stammen sollte, heißt das noch lange nicht, dass er ihn selbst hierhergelegt hat.«
    »Ohne seinen Hut ist er nie aus dem Haus gegangen. Er hatte ihn immer auf, auch an dem Abend, bevor er, Mom und Todd verschwunden sind. Er hat ihn nicht hier zurückgelassen. Und du weißt so gut wie ich, was das heißt, oder?«
    Ich wartete.
    »Es heißt, dass er noch lebt.«
    »Das könnte es heißen. Aber nicht unbedingt.«
    Cynthia legte den Hut zurück auf den Tisch, griff nach dem Telefon, hielt inne, streckte erneut die Hand aus, zögerte aber von neuem.
    »Die Polizei«, sagte sie. »Sie könnten Fingerabdrücke nehmen.«
    »Von dem Hut?«, sagte ich. »Wohl kaum, wenn du mich fragst. Außerdem bist du dir ja ohnehin sicher, dass es sein Hut ist – wozu also noch Fingerabdrücke nehmen?«
    »Nein«, sagte Cynthia. »Von der Haustür, meinte ich. Oder vom Tisch. Wenn sie seine Fingerabdrücke finden, heißt das, dass er noch lebt.«
    Ich war mir da nicht so sicher, aber ebenfalls dafür, die Polizei zu rufen. Irgendjemand war in unserem Haus gewesen – vielleicht Clayton Bigge, vielleicht ein anderer. Konnte man von einem Einbruch sprechen, wenn nichts gestohlen oder beschädigt worden war?

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