Ohne ein Wort
anrufen würde.«
Ich erinnerte mich, wie Abagnalls Handy während seines Besuchs bei uns geklingelt hatte. Im ersten Moment hatte er angenommen, seine Frau riefe an; dann hatte er das Handy aber wieder eingesteckt, ohne dranzugehen.
»Und? Hat sich der Anrufer wieder gemeldet?«
»Ich weiß es nicht. Seitdem habe ich nicht mehr mit Denton gesprochen.«
»War die Polizei schon bei Ihnen?«
»Ja. Ich hätte beinahe einen Herzinfarkt bekommen, als sie heute Morgen vor der Tür standen. Sie sagten, es ginge um den Mord an einer Frau aus Derby.«
»Die Tante meiner Frau«, sagte ich. »Wir haben sie gefunden.«
»O Gott«, sagte Mrs Abagnall. »Das ist ja furchtbar.«
Ich zögerte mit meinen Worten, da es mir inzwischen beinahe zur Gewohnheit geworden war, bestimmte Dinge für mich zu behalten, um andere nicht grundloszu ängstigen. Tatsache war allerdings, dass sich diese Taktik bislang nicht ausgezahlt hatte. Daher sagte ich: »Es besteht sicher kein Grund zur Panik, Mrs Abagnall, aber ich denke, Sie sollten die Polizei verständigen.«
»Oh«, sagte sie leise.
»Sagen Sie ihnen, Ihr Mann sei spurlos verschwunden. Auch wenn es noch keine vierundzwanzig Stunden her ist.«
»Verstehe«, sagte Mrs Abagnall. »Das werde ich sofort tun.«
»Rufen Sie mich an, wenn Sie etwas hören. Warten Sie, ich gebe Ihnen meine Telefon- und meine Handynummer.«
Andere Leute müssen in solchen Situationen erst einen Kugelschreiber holen, aber wenn man mit einem Detektiv verheiratet ist, liegen Notizblock und Stift offenbar immer griffbereit neben dem Telefon.
Cynthia betrat die Küche. Sie musste noch einmal zum Bestattungsunternehmen. Tess hatte Vorkehrungen für ihre Beerdigung getroffen und die Kosten für ihre Beisetzung schon vor Jahren in monatlichen Raten abbezahlt, um es ihren Lieben so einfach wie möglich zu machen. Ihre Asche sollte in der Bucht von Long Island verstreut werden.
»Cyn«, sagte ich.
Sie reagierte nicht. Sie strafte mich mit Schweigen, da sie glaubte, dass ich zumindest eine Teilschuld an Tess’ Tod trug – und auch ich fragte mich mittlerweile, ob vielleicht alles ganz anders gekommen wäre, wenn ich Cynthia von Anfang an eingeweiht hätte. Wäre Tess überhaupt zu Hause gewesen, wenn Cynthia gewussthätte, mit welchem Geld ihr Studium finanziert worden war? Oder hätten sich die beiden womöglich an einem ganz anderen Ort aufgehalten, um gemeinsam die Rätsel der Vergangenheit zu lösen?
Ich würde es nie erfahren. Und damit musste ich leben.
Wir waren beide nicht zur Arbeit gegangen. Cynthia hatte für unbestimmte Zeit Urlaub genommen und ich im Schulsekretariat Bescheid gesagt, dass ich die nächsten Tage fehlen würde. Ich hoffte, dass meine Vertretung ein Händchen für die Kids in meinem Schreibkurs haben würde.
»Ich werde dir nie wieder etwas verschweigen«, sagte ich. »Außerdem ist etwas passiert.«
Sie blieb in der Küchentür stehen, ohne sich zu mir umzudrehen.
»Ich habe gerade mit Abagnalls Frau gesprochen«, sagte ich. »Sie hat seit gestern Abend nichts mehr von ihm gehört.«
Ihre Schultern sackten herab. »Was hat sie gesagt?«, fragte sie tonlos.
Ich erzählte es ihr.
Sie stützte sich mit der Hand am Türrahmen ab. »Ich muss zum Bestatter, noch ein paar Dinge regeln.«
»Ja, natürlich«, sagte ich. »Soll ich mitkommen?«
»Nein«, sagte sie und ging.
Eine Weile wusste ich nicht genau, was ich mit mir anfangen sollte. Ich räumte die Küche auf, machte hierund da ein bisschen Ordnung und versuchte erfolglos, Grace’ Teleskop auf dem Stativ zu befestigen.
Als ich wieder nach unten ging, fiel mein Blick auf die beiden Schuhkartons, die Abagnall uns am Vortag zurückgegeben hatte. Ich nahm sie an mich und ging in die Küche.
So saß ich da und begann mir die Erinnerungsstücke anzusehen, eins nach dem anderen. Genauso hatte es Abagnall wahrscheinlich auch gemacht.
Als Cynthia damals zu Tess gezogen war, hatte sie die Schubladen im Haus ausgeräumt und den Inhalt in den Schuhkartons verstaut. Mit der Zeit sammelt sich in Schubladen eine Mischung aus wichtigen und bedeutungslosen Dingen an: Kleingeld, alte Schlüssel, Quittungen, Bons, Zeitungsausschnitte, Knöpfe, Kugelschreiber. Die Schubladen im Hause Bigge waren da keine Ausnahme gewesen.
Clayton Bigge war nicht besonders sentimental veranlagt gewesen; eigentlich passte es überhaupt nicht zu ihm, dass er Zeitungsausschnitte aufbewahrt hatte. Aber da war zum Beispiel das Zeitungsfoto von Todds
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