Ohne Ende Leben - Roman
auf mich warten. Während ich sie beobachte, werden meine Augenlider schwer. Der Rhythmus der Straße wiegt mich in den Schlaf.
»Cameron? Ich dachte, ich lese dir noch ein bisschen was aus
Don Quijote
vor.« Mom sitzt, lichtüberströmt, neben mir auf meinem Krankenhausbett. Die Vorhänge sind zugezogen und schließen uns in einem kleinen Gardinengespinst ein. »Würdest du das mögen?« Ihre Stimme hüllt mich ein wie ein Handtuch, das frisch aus dem Trockner kommt. Ich lasse mich mit Sancho Panza kreuz und quer durch die unterhaltsamen Abenteuer des irrsinnigen Ritters treiben. »›Hört auf meinen Rat und lebt noch viele, viele Jahre‹«, liest Mom vor. »›Das Dümmste, das ein Mensch in seinem Leben tun kann, ist, so mir nichts, dir nichts zu sterben.‹«
Nach einer Weile klappt Mom das Buch zu und streicht über mein Haar. »Irgendwie ist es schön, dir wieder was vorzulesen«, sagt sie. »Kannst du dich daran erinnern, wie wir im Sommer immer in die Bibliothek gingen, als du ein Kind warst? Ich hab dich fünf Bücher aussuchen lassen, und du konntest nie warten, bis wir nach Hause kamen. Also mussten wir uns eine Ecke suchen, uns hinsetzen und alle Bücher lesen, bevor wir die Bibliothek wieder verließen.«
Warum kann ich mich nicht daran erinnern? Wie können meine Mom und ich dasselbe erlebt haben und ich erinnere mich nicht daran?
»Warum haben wir das eigentlich aufgegeben?«, wundert sich Mom laut. »Wir sind einfach nicht mehr hingegangen. Ich glaube, du wolltest nicht mehr. Und ich hatteAngst, dich zu drängen. Ich hatte immer Angst, das Falsche zu sagen, also habe ich den Mund gehalten.«
Mom weint ein bisschen, leise, wie sie es immer tut. Sie gibt nie einen Laut von sich, nicht einmal, wenn sie weint. Und das macht mich ein bisschen traurig. Ich habe das Gefühl, dass das nicht richtig ist. Wenn du weinst, sollten dich die Leute hören. Die Welt sollte für einen Augenblick anhalten. Ich drücke Moms Hand und sie drückt meine. Ich sage nichts, aber immerhin weiß sie, dass ich sie gehört habe.
Menschen kommen und gehen in meinem Traum wie Schauspieler in einem Theaterstück. Eubie besucht mich. Er stülpt mir Headphones über die Ohren, damit ich den
Cypress Grove Blues
hören kann, und ich möchte ihm gern erzählen, dass ich in New Orleans gewesen bin, dass ich Junior Webster gesehen und für ihn Bassgitarre gespielt habe – aber es ist ein Traum und die Worte kommen mir nicht über die Lippen. Einmal sitzt Dad auf meinem Bett und liest mir aus einem physikalischen Aufsatz vor, den er beurteilen muss. Es geht um Super-Teilchenbeschleuniger.
In der Ecke zeigt der leise gestellte Fernseher immer wieder denselben Cartoon, den, wo sich Roadrunner und Kojote gegenseitig durch Türen rein- und rausjagen. Das Letzte, was ich sehe, ist die alte Lady vom Zimmer gegenüber, wie sie am Fußende meines Bettes steht. Sie ist mit Mantel und Hut bekleidet und trägt einen kleinen Koffer in der Hand.
»Ein Haus am Meer. Vergiss das nicht.«
»Werd ich nicht«, sage ich, aber ich bin mir nicht sicher, ob mich irgendjemand hört.
Und im Fernsehen wartet der Kojote auf den fallenden Amboss.
KAPITEL ZWEIUNDZWANZIG
In dem der Engel die Wunder von Popcorn in der Mikrowelle diskutiert, und Gonzo dafür sorgt, dass unsere Ärsche am Ende der Welt stranden
Als ich die Augen aufschlage, ist es früher Morgen. Der Tag ist nicht viel älter als ich. Die Leute schlafen noch. Die Sitzlehnen sind zurückgeklappt, die Köpfe ruhen an den Fensterscheiben und die Münder sind weit geöffnet. Durch einen dünnen Schleier von Wassertröpfchen am Fenster sehe ich die Landschaft an mir vorüberziehen. Wir sind in Mississippi oder vielleicht in Alabama.
Grauer Nebel liegt über den Teerpappedächern der kleinen Hütten. Quer über die Vorgärten sind Wäscheleinen gespannt. Die aufgehängten Hemden fangen den Wind ein, als ob sie mit ihm davonsegeln wollten, raus aus diesen winzigen, vermüllten Gärten mit den alten Rostlauben und dem kaputten Plastikspielzeug. Ich hauche ein paarmal das Fenster an und beobachte, wie mein Atem die Scheibe beschlägt und wieder verschwindet und wieder beschlägt und wieder verschwindet.
Ich spüre gern die Straße unter mir, diesen zuverlässigen Bumbum-bumbum-bumbum-Rhythmus der großen Räder. Neben mir ratzt Gonzo. Er hat seinen großen Kopf an meine Schulter gelehnt und murmelt im Schlaf. Ich würde gern wissen, wovon er träumt.
»Kuckuck.« Dulcie äugt über den
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